Dez 10

Die langsame Verarmung. Zu alt, um noch gut und jung genug zu sein. Die zunehmende Brutalität des Arbeitsmarktes wird sich eines Tages rächen.

Autor: PersonalRadar

Arbeitslos sein ist ein Schicksal. Viele hatten keine Wahl. Sie wurden auf die Strasse gestellt. Jung und arbeitslos ist eine Kombination, die von der Wirtschaft gut aufgesogen wird. Reif und arbeitslos ist jedoch eine Kombination, die schnell zur Komplikation wird.

Viele reife Erwerbslose oder 50+, wie sie euphemistisch verbrämt oft auch verschämt bezeichnet werden, sind nicht schuld an ihrem Schicksal. Exogene Faktoren, wie sich verändernde, volatile Märkte, neues oder schlechtes Management, Finanzprobleme des Arbeitgebers, Disruption, hohe Sozialversicherungsbeiträge und vieles mehr, führen zu Entlassungen. 50plus leidet unter dem Stigma des Alters. Älter werden alle. Arbeitsmärkte, die die ‚Alten‘ nicht mehr beschäftigen wollen, sägen am eigenen Ast.

Wie kommt man wieder aus dem Loch? Viele ältere Arbeitssuchende fragen sich das jeden Tag. Sie unternehmen alles, um einen Job zu finden. 50+ hat es auf dem Arbeitsmarkt nicht einfach. Die Diskriminierung der reifen Jahrgänge kann nicht mehr ignoriert werden. Landen diese bei der Sozialhilfe, kostet das der Gesellschaft viel Steuergeld. Die Gewinne den Unternehmen, die Verluste der Allgemeinheit. Ist das die Lösung? Wohl kaum!

Zuerst kommen die Verzichtbaren dran. Zwischendurch die Kostspieligen. Am Schluss trifft es die Unverzichtbaren.

Spätestens nach der Entlassung ist der ehemalige Status nicht mehr so wichtig. Das Brandmal des Verlierers steckt am Revers. Ehemalige Mitarbeitende wenden sich diskret, still oder grob ab, als hätte man eine ansteckende Krankheit. Arbeitslose machen eine mehrschichtige Metamorphose durch. Man arbeitet, dann ist man plötzlich arbeitslos. Man bäumt sich auf, sucht intensiv und zweckoptimistisch neue Arbeit, würde auch solche akezptieren, die sogar prekär wäre, und wird irgenwann ausgesteuert. Das zuständige RAV hat meistens auch nicht viel dazu beigetragen, dass den Arbeitssuchenden dieser Zustand erspart bleibt. Was bleibt ist Scham, Resignation, Wut und Frustration vom Scheitel bis zu den Fusssohlen. Endstation. Das Vermögen, die Ersparnisse, der Wert des Hauses oder der Eigentumswohnung werden aufgezehrt und sind in kurzer Frist futsch. Die Sozialhilfe folgt und die Armut lacht einem zahnlos ins Gesicht. Diese Menschen wenden sich ab, ziehen sich zurück und nähren sich mit Zynismus oder Galgenhumor. Das Fachwissen vermodert langsam, die letzten Kontakte zur Arbeitswelt verludern und die durch viel Steuersubstrat über Wasser gehaltene Arbeitsmarktfähigkeit sinkt ab auf unternull.

Nur die sedierenden Wirkstoffe der Pharmaindustrie machen den Zustand erträglich. Auch der Alkohol wird nicht selten ein inniger Freund. Im schlimmsten Fall helfen harte Drogen oder andere Süchte über die Misere hinweg. Der Zustand der Langarbeitszeitlosigkeit macht die Psyche vieler mürbe und die Widerstandskräfte butterweich. Der verbliebene Rest Selbstliebe erodiert total. Man ist unten. Ganz unten. Endstation. Und jetzt? Meistens kommt nichts mehr. Das berufliche Nahtoderlebnis ist total.

Die Langarbeitslosigkeit ist nichts für Feiglinge. Danach folgt Armut, Verzweiflung, Ausgrenzung und Wut. Ist der schweizerische Arbeitsmarkt so unreif, dass er für die Reifen nicht mehr tun kann? Kann es sich dieser Arbeitsmarkt wirklich leisten, auf die berufliche Expertise der Betroffenen einfach zu verzichten? Was ist das für ein krankes System? Fragen über Fragen. Es wird Zeit, dass die reifen Damen und Herren in den politischen Schlüsselpositionen sich darüber Gedanken machen wie es für sie wäre, wenn sie vom selben Schicksal betroffen wären. (Bildquelle: www.pixabay.com)

‚Wer nicht arbeitet ist faul und ein Schmarotzer.‘ So denken viele. Die angeblich Faulen waren jedoch oft jahrzehntelang die Fleissigen und Erfolgreichen. Es hat sie einfach erwischt. Sie bewerben sich fleissig ohne Unterlass und erhalten nicht selten faule Ausreden. ‚Wer will schon teures Gammelfleisch‚ wenn ich billiges Frischfleisch‘ haben kann? Dieses Denken ist weit verbreitet.

Viele ältere, versicherten Arbeitssuchenden werden von den staatlich geführten regionalen Arbeitsvermittlungzentren (RAV) durch den regulatorischen Dschungel getrieben und immer wieder mahnend darauf aufmerksam gemacht, dass sie jede zumutbare Arbeit annehmen müssen. Viele dieser Versicherten würden noch so gerne auch nur befristete Teilzeitjobs annehmen, um wenigstens durch den Zwischenverdienst die Rahmenfrist künstlich verlängern zu können. Es ist meistens ein beruflicher Tod auf Raten. Viele finden nichts. Auch dann nicht, wenn sie von privaten oder staatlichen spezialisierten Dienstleistern  lange ‚gecoacht‘ wurden, damit sie alle Tricks und Kniffs der optimierten Stellenbewerbung kennen und am Schluss trotzdem immer noch ohne Job dastehen. Der reife Jahrgang wird auf Empfehlung verschämt am Schluss des Lebenslaufes versteckt, wenn er überhaupt noch erwähnt wird, und das Porträtfoto technisch so aufgemotzt, damit die angeblich nicht versiegende Vitalität des Stellensuchenden ostentativ zum Ausdruch kommt und tranig in den Vordergrund gestellt wird. Es wird notabene viel unternommen. Selbst die staatlichen Personalvermittler wissen inzwischen aus Erfahrung, dass 50+ oft auf der Strecke bleibt und als gesellschaftliches Strandgut in den Rechen der Sozialversicherung hängen bleibt. Entweder geht es flott zur Sozialhilfe oder die IV wird bemüht. Aber die bockt inzwischen auch, da die Kassen leer sind und die Politik Druck macht, damit dieses Sozialversicherungswerk wieder ins Lot kommt.

Aus den Augen, aus dem Sinn. Job erledigt. Rahmenfrist ausgeschöpft. Nächster bitte! Die persönlichen Schicksale bleiben anonym. Die Verzweiflung ist privat. Was schert das die Politik? Anscheinend keinen Deut. Hauptsache die Reifen gehen wählen und halten sich still! 

Wohin geht die Reise? Was ist nach dem Horizont? (Bildquelle: www.pixabay.com)

Viele Arbeitsuchende der Gruppe 50+ sind exzellent ausgebildet, mehrsprachig, weltgewandt mit Lebensbildung, berufserfahren, eloquent, sozial und interkulturell kompetent, kundentauglich, ausgesprochen betont resilient, frustrationstolerant und auch einkommensmässig flexibel. Sie wollen arbeiten, wieder Teil der Arbeitswelt werden und, ohne die zuweilen entwürdigende staatliche Grundversorgung, für sich selber sorgen können. Viele versuchen mit autosuggestiven, psychologischen Instrumenten oder angebotenen, gut gemeinten, auch sinnvollen Hilfeleistungen sich gemütsmässig über Wasser zu halten, damit die virulent nagende Angst vor dem wirtschaftlichen wie auch sozialen Abstieg sie nicht erstickt. Meistens vergebens. Der Jahrgang lässt sich nicht wie eine Laus im Pelz abschütteln. Er ist da. Er ist die neue Messlatte, ob es mit der Neuanstellung klappt oder nicht. Jung ist super, alt ist scheisse! Der Respekt des Arbeitsmarktes gegenüber den reifen Jahrgängen ist bedenklich. Wohin führt das noch?

Menschen, die in einer Leistungsgesellschaft gross wurden und in ihr eingebettet sind, identifizieren sich über die Arbeit. Geht sie ihnen verloren, dann fühlen sich viele entsetzlich nackt und ohne Würde. Nicht selten genug, gibt ihnen auch das Umfeld zu spüren, dass sie Versager sind. Wer sich aber als Versager fühlt, hat auch nicht genügend Selbstbewusstsein, um seine Arbeitsmarktfähigkeit hochhalten zu können. Ein Teufelskreis. Je länger ein Mensch arbeitslos bleibt, desto grösser wird seine Unsicherheit. Am Schluss verkriecht er sich und macht sich unsichtbar. Wer will schon mit dem Versagen auf du und du sein?

Reife Jahrgänge, die sich noch nicht pensionieren lassen können und auch nicht auf die Sozialhilfe gehen wollen, verzweifeln. Sie werden zynisch. Sie werden radikal. Sie werden destruktiv. Ihr nach wie vor wertvolles Potenzial geht verloren und versifft. Es stumpft ab. Viele Leistungswillige geben auf. Die Statistik hat es ebenso gemacht. Die Politik sowieso. Traurig.

Ist man ganz unten, dann bleibt der Richtungswechsel des eigenen Lebens eine akademische Frage, die sich die meisten gar nicht mehr leisten können. Sie sind nämlich auf dem Abstellgleis. Das Ende ist der Prellbock.  (Bildquelle: www.pixabay.com)

Es wird Zeit, dass die Betroffenen ihre Scham nicht mehr verstecken. Es wird Zeit, dass die Unternehmen sich bewusst werden, dass die Generation der ‚Babyboomer‘ in die Pension geht und grosse Lücken in die Belegschaften reissen wird. Vielleicht sind dann die Arbeitgebenden ganz froh, wenn man aus immer spärlich werdenden Bewerbungen, noch solche von 50+ erhält, die bestens ins Gefüge passen, aber vielleicht ein wenig mehr kosten. Die Nichtbesetzung einer wichtigen Position kostet unter Umständen viel mehr. Umsätze, Erträge und Aufträge können nicht generiert werden, weil Arbeitskräfte fehlen. Das geht dann richtig ins Geld. Zudem sollte man sich auch mal überlegen, ob die Religion der reinen Betriebswirtschaft und forcierten Gewinnmaximierung die einzigen Schlüsselreize sind, die eine Volkswirtschaft am Laufen hält. Menschen, die unverschuldet aus dem Arbeitsprozess fallen, gehen gesellschaftlich dick ins Geld und verursachen à la longue Minusposten, die volkswirtschaftlich ebenso ins Tuch gehen.

Es bleibt zu hoffen, dass es immer mehr Unternehmen gibt, die sich ihrer sozialen Verantwortung stellen, über den eigenen Schatten springen und jenen Verzweifelten vermehrt Arbeitsplätze anbieten, die nicht ganz dem ‚Mainstream‘ des juvenilen Wahns entsprechen. Die besten Teams sind immer noch jene mit konsequenter Durchmischung aus Frauen, Männern, jung und alt, die auch die vorherrschende gesellschaftliche Realität widerspiegeln. Reife Jahrgänge haben ebenso ein Recht auf Arbeit und Respekt. Viele haben in den vergangenen Jahrzehnten enorm viel geleistet und dazu beigetragen, dass es der Schweiz gut geht. Das sollte nicht vergessen werden! Es ist an der Zeit, dass die Politik endlich vorwärts macht und nach entlastenden Lösungen sucht, die was taugen und den Betroffenen helfen. Honi soit qui mal y pense. Nachfolgend ein Link, der nachdenklich stimmt:  ‚Als wäre man ansteckend‘.