Nov 27

„Was will ich eigentlich? Was ist mir wichtig? Machen Sie doch was Sie wollen!“

Autor: Rolf Murbach

Mit psychdiagnostischen Verfahren wird in Laufbahnberatungen Potenzial abgeklärt. Die Leistungs-, Intelligenz- und Persönlichkeitstests alleine sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen. Ebenso zum Potenzial einer Person gehören Motivation, Disziplin und Kreativität (Quelle: NZZ am Sonntag vom 22. November 2009 ein Beitrag von Rolf Murbach).

Die Beratungsunternehmen locken mit viel versprechenden Namen: Design your live, Assessment Center, Work-life-balance, Berufs- und Lebensgestaltung. In der Studien-, Berufs- und Laufbahnberatung geht es neben der Klärung von persönlichen Interessen, Neigungen, Zielen und Marktchancen immer auch um die sogenannten Potenziale – um Stärken, brach liegende Möglichkeiten und um die Frage, wie man Zugang zu Ressourcen findet und sie im Leben nutzt. Potenzialabklärung heisst das Zauberwort und weckt bei Ratsuchenden hohe Erwartungen. Sie ist neben der Standortbestimmung zentraler Teil jeder Laufbahnberatung. Bei Potenzialabklärungen kommen wissenschaftlich abgesicherte und standardisierte psycho-diagnostische Verfahren zum Einsatz.

Die Tests geben Auskunft über Persönlichkeit, Intelligenz, Leistungsvermögen, Arbeits-, Entscheidungs- oder Sozialverhalten. Hinzu kommen explorative Arbeitsmittel, mit denen die Ratsuchenden Interessen und Neigungen erkunden.

«Die Tests sind in den letzten Jahren aussagekräftiger geworden», sagt Dieter Hauser vom Institut für Angewandte Psychologie IAP in Zürich. «Aber man sollte nicht allzu testgläubig sein. Zentral für den Beratungserfolg ist das gemeinsame Gespräch, in dem die Testresultate kritisch gewürdigt und eingeordnet werden.» Und Esther Albrecht, Beraterin am Laufbahnzentrum Zürich, erklärt: «Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man Potenzial einfach abchecken und messen kann. Es hängt auch von der Beratungsqualität ab, wie stark sich eine Klientin ihrer Ressourcen bewusst wird. Nur wenn ein vertrauensvoller Rahmen und Unabhängigkeit gegeben sind, können Ratsuchende neue Wege denken und auch wagen.»

Die Motive, weshalb Menschen eine Standortbestimmung bzw. eine Laufbahnberatung machen, sind mannigfaltig. Ein Stellenwechsel oder Weiterbildungsentscheid steht an. Die Life-Work-Balance ist aus dem Lot. Unzufriedenheit, Burn-out, Neuorientierung oder Wiedereinstieg sind weitere Gründe für eine Beratung. Dabei gestaltet sich die Potenzialabklärung von Jugendlichen und Erwachsenen meist unterschiedlich.

  • Bei Jugendlichen geht es unter anderem darum, mit Interessen-, Intelligenz- und Leistungstests abzuklären, welche beruflichen Möglichkeiten ihnen offenstehen und welche Ausbildungen sie mit grosser Wahrscheinlichkeit erfolgreich absolvieren werden – also um eine möglichst objektive Einschätzung der Erfolgschancen.
  • Bei Erwachsenen wiederum stehen oftmals konkrete Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine bestimmte Tätigkeit im Vordergrund. «Menschen, die sich verändern wollen oder müssen, möchten erfahren, welches Potenzial für eine berufliche Herausforderung gefragt ist, und sie möchten einschätzen, ob sie diesen Anforderungen genügen. Natürlich richten wir in einer Beratung das Augenmerk immer auch auf Interesse, Neigung und Motivation.»

Ein weiterer Grund, weshalb Menschen eine Beratung aufsuchen, liegt in der härteren Gangart der Arbeitswelt.

Dieter Hauser, Leiter des Zentrums Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung am IAP, sagt: «Ich habe den Eindruck, dass Klienten in den letzten Jahren vermehrt eine Potenzialabklärung wünschen, weil sie verunsichert sind. Sie erhalten negative Rückmeldungen von ihren Vorgesetzten und wollen nun eine neutrale Einschätzung ihrer Fähigkeiten.» Zudem werde das Selbstmarketing immer wichtiger. «Vor zehn Jahren kamen die Ratsuchenden zu uns und wollten mehr über eigene Stärken und Schwächen erfahren. Heute geht es vermehrt um die Frage, wie man seine Stärken umsetzen kann, also um das Marketing in eigener Sache.»

Wenn ich in einer Domäne begabt bin, dann wird sich Erfolg schon einstellen. Diese Haltung ist ein Trugschluss, wie verschiedene Studien aufgezeigt haben.

Eine einseitige Berücksichtigung von Potenzial respektive Begabung bei Berufs- und Laufbahnentscheiden ist fragwürdig. Wer eine Tätigkeit mit grossem Interesse oder gar Leidenschaft ausübt und damit eine hohe Leistungsbereitschaft an den Tag legt, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit erfolgreicher und zufriedener als ein anderer, wenig Engagierter mit gleicher oder sogar grösserer Begabung. Die Erziehungswissenschafterin, Laufbahnberaterin und Autorin Ulrike Stedtnitz zeigt in ihrem neusten Buch «Mythos Begabung» auf, dass beruflicher und persönlicher Erfolg nicht nur von statischen Determinanten wie Intelligenz und Begabung abhängen, sondern vom kreativen, motivierten und intensiven Umgang mit den Herausforderungen des Lebens, sei es in der Schule, im Beruf, in der Freizeit oder im Alltag. Der Neuropsychologe Lutz Jäncke, der sich seit Jahren mit den neurowissenschaftlichen Aspekten von Lernen befasst, schreibt im Vorwort: «Erfolg in diesen Lebensbereichen ist nicht das Ergebnis einer „geschenkten“ Begabung, sondern ist vielmehr abhängig von der persönlichen Erfahrung und anderen bislang vernachlässigten psychischen Funktionen wie Motivation, Disziplin und Kreativität.»

Was versteht man denn überhaupt unter Potenzial? Der Begriff ist nicht einfach zu fassen. Es geht um Stärken, Fähigkeiten, Ressourcen, wie man diese wahrnimmt und im Leben verwirklicht – und eben um Motivation, Disziplin und Kreativität. Wer sein Potenzial ausschöpft, hat, vereinfacht formuliert, eine Antwort gefunden auf die Frage «Was will ich eigentlich?», die zentrale Frage in einer Laufbahnberatung und im Leben überhaupt. «Potenzial ist wie alle psychologischen Begriffe ein Konstrukt», sagt die Psychologin Maja Storch, Inhaberin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich. «Wir können nur beobachten. Wo Menschen bei einer Tätigkeit aufblühen, da ist Potenzial. Wenn wir etwas tun, was uns wirklich liegt und wir dabei in eine positive Stimmung versetzt werden, dann verändert sich alles in uns und reguliert sich von alleine. Wir haben Zugang zu unserer Kreativität und fühlen uns gesund. Wir sind gleichsam unser eigenes Kraftwerk.»

Doch wie findet man heraus, was einem wirklich liegt, was man aus Leidenschaft gerne tut? Für viele Menschen ist dies nicht einfach. Mit dem Verstand allein, kann man die Frage nicht beantworten, wie Maja Storch in Forschungsarbeiten aufgezeigt hat. «Das Erkennen von Potenzial ist auch eine Bewertungsleistung des emotionalen Gedächtnisses, ist also gefühlt und nicht gedacht. In Beratungen und Seminaren treffe ich immer wieder auf Menschen, die allein durch Denken herausfinden wollen, wo ihre Ressourcen liegen. Das funktioniert nicht.»

Maja Storch ist Mitbegründerin des Zürcher Ressourcen Modells, einer Selbstmanagement-Methode, bei der es um die Entwicklung von Handlungspotenzialen geht. Ein zentraler Begriff sind die sogenannten somatischen Marker. Sämtliche Erfahrungen eines Menschen werden emotional bewertet und nach einem einfachen Prinzip gespeichert. Hat die Erfahrung einen positiven Eindruck auf das eigene Wohlbefinden hinterlassen, wird sie in einem guten Gefühl markiert. Im gegenläufigen Fall wird sie mit einem schlechten Gefühl abgespeichert. Diese bewertenden Signale des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses werden als somatische Marker bezeichnet. In ihren Seminaren arbeitet Storch mit diesen somatischen Markern. Die Teilnehmenden sollen durch Training lernen, diese Marker respektive Gefühle wahrzunehmen, also Zugang zu einem wichtigen Teil der Psyche zu finden – «dem Teil, der für nachhaltige Motivation und Selbstbestimmung eine entscheidende Rolle spielt».

Maja Storch: «Die Menschen lernen, auch in schwierigen Situationen auf die eigenen somatischen Marker zu achten und können so unkontrolliertes Verhalten durch gewollte und geplante Handlung ersetzen. Anstatt diese Signale als Ablenkung und Störfaktoren zu verstehen, kann man lernen, sie zu nutzen. Je besser wir diese Zeichen verstehen, umso glücklicher sind wir mit unseren Entscheidungen und umso überzeugender vertreten wir diese. Neben kognitiv-verstandesmässigen Einsichten sind also auch emotionale und physiologisch-körperliche Aspekte wichtig.»

Die Frage nach dem eigenen Potenzial – und damit verbunden die Verwirklichung dieser Möglichkeiten – ist also stark verknüpft mit der Frage «Was will ich eigentlich? Was ist mir wichtig?».

Die Laufbahnberaterin Esther Albrecht stellt diesbezüglich bei ihren Klienten unterschiedliche Erwartungen fest: «Jüngere Ratsuchende erkennen oftmals nicht, wie wichtig es wäre, bei einer Potenzialabklärung auf eigene Interessen und Neigungen zu achten um Erfüllung in Beruf und Leben zu erlangen. Ihr Blick ist stark auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet. Vierzig- bis Fünfzigjährige hingegen stellen die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund. Bei ihnen ist die Frage „Was will ich wirklich?“ zentral.»

Alter, Ausbildung, Arbeitsmarkt, soziale Einbindung und Finanzen setzen zwar einer Neuorientierung oftmals Grenzen. Esther Albrecht erlebt aber in ihren Beratungen immer wieder, dass die Klienten schon die Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten als bereicherend erleben.

«Viele Frauen und Männer, die sich beruflich keine Neuorientierung erlauben können, verwirklichen Neues in der Freizeit. Sie engagieren sich in Projekten, spielen Theater oder ein Instrument, besuchen Weiterbildungen.» Andererseits stellt die Laufbahnberaterin bei Menschen fest, die das Andere wagen: «Ein mutiger Schritt setzt Energien frei». Das bedeutet: Potenzial kommt dann zum Tragen, wenn man eigene Vorstellungen verwirklicht, also handelt. Maja Storch bringt es mit dem programmatischen Titel ihres neuen Buches auf den Punkt: «Machen Sie doch, was Sie wollen!»