Mrz 26

Personenfreizügigkeit: Fluch oder Segen?

Autor: swissstaffing

Wie viele Menschen – Erwerbstätige und nicht Erwerbstätige – sind im Rahmen der Personenfreizügigkeit in die Schweiz eingewandert ? Lindern die Zuwandernden den Fachkräftemangel, oder treiben sie die Arbeitslosigkeit in die Höhe ? Was ist mit der Zuwanderung während der Wirtschaftskrise geschehen ? Fragen, welche die Öffentlichkeit beschäftigen. Verschiedene, zum Teil populistisch aufgeladene Antworten machen die Runde. Im Interesse einer sachlichen Diskussion nimmt der vorliegende Artikel die Zuwanderung statistisch unter die Lupe (Quelle: swissstaffing).

Die ausländische Bevölkerung in der Schweiz setzt sich aus verschiedenen Gruppierungen zusammen. Nicht alle Zuwandernden kommen in die Schweiz, um zu arbeiten (vgl. Grafik 1):

Die Niedergelassenen (56 %) leben seit mindestens 5 Jahren in der Schweiz, meist aber schon viel länger. Die Aufenthalter (27 %) haben eine Bewilligung, um mindestens ein Jahr in der Schweiz zu verweilen. Von beiden Gruppen ist nur leicht mehr als die Hälfte erwerbstätig. Die Kurzaufenthalter (3 %) verfügen über eine unterjährige Bewilligung. Sie kommen fast ausschliesslich für Erwerbszwecke in die Schweiz. Die Grenzgänger (11 %) arbeiten in der Schweiz, wohnen aber im Ausland. Hinzu kommt eine kleine Gruppe übriger Ausländer (3 %), die entweder als Funktionäre und Diplomaten in der Schweiz leben oder die sich im Asylprozess befinden. Insgesamt waren im Jahr 2009 1,24 Mio. Personen ausländischer Staatsangehörigkeit in der Schweiz erwerbstätig. Das entspricht einem guten Viertel aller Erwerbstätigen.

Die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung

Die Zuwanderung ausländischer Erwerbstätiger hat nach der Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 zunächst etwas abgenommen, um erst nach einem Jahr leicht bzw. nach drei Jahren wieder merklich zuzunehmen. Kurz nach dem Wechsel zur vollen Personenfreizügigkeit im Jahr 2007 hat die Zuwanderung erneut deutlich abgenommen (vgl. Grafik 2 ).

Die Vermutung liegt nahe, dass beides mit der Konjunkturlage zusammenhängt: Zur Zeit der Einführung der Personenfreizügigkeit befand sich die Schweiz in einer Rezessionsphase. Deshalb schrumpfte die ausländische Erwerbsbevölkerung zunächst und nahm die Zuwanderung erst nach einer gewissen Zeit – mit dem Eintreten der Boomphase 2005 bis 2007 – merklich zu. Die Öffnung zur vollen Personenfreizügigkeit fiel dagegen ans Ende dieser Boom zeit. Die Zuwanderung erreichte bereits kurz vorher ihre Spitze, wuchs auf hohem Niveau weiter, brach kurz darauf mit der aktuellen Krise aber ein.

Die Zuwanderung hatte notabene schon vor der Einführung der Personenfreizügigkeit, im Boomjahr 2001, den Spitzenwert von 2006 erreicht. Das ist sehr wahrscheinlich Ausfluss des schon längere Zeit vorhandenen Fachkräftemangels.

Nach wie vor sind im Jahr 2009 knapp 30 000 erwerbstätige Ausländer eingewandert (Wanderungssaldo), wobei die Zuwanderung gegenüber dem Vorjahr um einen Viertel gesunken ist. Der Bestand der Aufenthalter hat 2009 nochmals deutlich um 10 % zugelegt. Die Zunahme im Vorjahr war allerdings höher (14 %). Der Bestand der Kurzaufenthalter dagegen hat 2009 zum zweiten Mal in Folge gegenüber dem Vorjahr abgenommen, nämlich um 6 % (im Vorjahr um 23 %). In Bezug auf die Grenzgänger hat schliesslich auch eine Beruhigung stattgefunden. Der Bestand hat zwar nach wie vor ganz leicht um 1 % zugenommen. Der Zuwachs war 2009 allerdings deutlich geringer als in den Jahren davor. Die Personenfreizügigkeit ist also ein flexibles System, das auf konjunkturelle Veränderungen reagiert.

Ein Zeichen des Fachkräftemangels …

Dass die Zuwanderung ausländischer Erwerbstätiger in der aktuellen Wirtschaftskrise nicht versiegte, hat sehr wahrscheinlich mit dem in gewissen Branchen nach wie vor bestehenden Fachkräftemangel zu tun. Ende 2009 vermeldete noch beinahe jeder vierte Betrieb (23 %) Rekrutierungsschwierigkeiten beim qualifizierten Personal. In den letzten Jahren verzeichneten der Maschinenbau bzw. die Industrie im Allgemeinen, das Gastgewerbe, die Informatikdienste, das Baugewerbe sowie das Kredit- und Versicherungsgewerbe überdurchschnittliche Schwierigkeiten bei der Fachkräfterekrutierung. So erstaunt es nicht, dass gerade in diesen Branchen ausländische Erwerbstätige häufig überrepräsentiert sind bzw. die Zuwanderung zum Teil überdurchschnittlich wächst. Das ist ein klares Indiz dafür, dass keine Verdrängung von Schweizer Erwerbstätigen stattfindet.

… darum weder Lohndruck noch Verdrängung

Auch die Ergebnisse der Lohnstrukturerhebung 2008 und die Zahlen zur Arbeitslosigkeit zeigen, dass für den überwiegenden Teil der Schweizer Erwerbstätigen durch die Zuwanderung kein Lohndruck entsteht und inländische Arbeitnehmende nicht vom Arbeitsmarkt verdrängt werden:

Eindeutig gegen die Lohndumpingtheorie spricht, dass das Lohnniveau (Median) seit der Einführung der Personenfreizügigkeit (2002) für alle Anforderungsniveaus gestiegen ist. Jedoch lässt sich nicht prüfen, ob die Lohnsteigerung ohne Personenfreizügigkeit höher ausgefallen wäre.

Von den Kurzaufenthaltern – und auf Stellen mit tieferem Anforderungsniveau auch von den Aufenthaltern – könnte auf den ersten Blick zwar ein gewisser Lohndruck ausgehen: Kurzaufenthalter erhalten nämlich auf allen (bis auf die höchste) Anforderungsstufen rund 20 % weniger Lohn als Schweizer Arbeitskräfte. Allerdings handelt es sich bei den Kurzaufenthaltern nur um wenige Erwerbstätige (1 %), die sich auf verschiedenste Branchen verteilen. Bei den Aufenthaltern handelt es sich hingegen um eine etwas grössere und wachsende Gruppe (8 %). Die Lohnunterschiede sind aber geringer (9 % bis 13 %). Trotzdem sprechen die Statistiken keineswegs für verbreiteten Lohndruck oder Verdrängung von inländischen Erwerbstätigen: Die öffentliche Statistik unterscheidet nur 4 verschiedene Anforderungsniveaus. Die beruflichen, persönlichen und insbesondere branchenbezogenen Differenzen innerhalb einer Niveaugruppe können demzufolge gross sein. Die vordringliche Frage ist, ob Kurzaufenthalter und Aufenthalter spezifische persönliche und berufliche Merkmale aufweisen, und das tiefere Lohnniveau daher rührt. Eine tiefer gehende Analyse (*) für ausgewählte Branchen, in denen die Letztgenannten häufig arbeiten, bestätigt dies. Es resultieren deutlich geringere Lohnunterschiede bzw. sogar das Gegenteil: Für Arbeiten auf dem niedrigsten Anforderungsniveau im Gastgewerbe verdienen Kurzaufenthalter 6 % und Aufenthalter 3 % weniger als Schweizer Erwerbstätige. In der chemischen Industrie verdienen Aufenthalter an Stellen mit tiefstem Anforderungsniveau sogar 6 % mehr als Schweizer Arbeitskräfte. Dasselbe gilt für Kurzaufenthalter in den Informatikdiensten, die auf Stellen mit tiefstem Anforderungsniveau 5 % mehr verdienen als ihre Schweizer Kollegen. Auch die entsprechende Analyse für die Grenzgänger bringt keine Hinweise auf systematischen Lohndruck oder Verdrängung an den Tag. Obwohl gerade Grenzgänger ihren Lebensunterhalt nicht in der Hochpreisinsel Schweiz bestreiten und sich deshalb mit einem niedrigeren Einkommen zufrieden geben könnten, sind die Lohnunterschiede gering (5 % weniger bis 1 % mehr als Schweizer in ausgewählten Branchen). Die Arbeitslosigkeit ist zwar mit der Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 angestiegen, doch dies war konjunkturell verursacht.

In der nachfolgenden Zeit und auch im Nachgang zur Öffnung zur vollen Personenfreizügigkeit hat die Erwerbslosenquote – und zwar sowohl jene der Schweizer als auch jene sämtlicher Ausländergruppen – wieder auf insgesamt 3,3 % ab genommen.

Der Tiefstwert des letzten Booms (2,5 %) wurde zwar nicht mehr ganz erreicht (vgl. Grafik 3).

Trotzdem zeigt der Verlauf, dass die Arbeitgeber das inländische Beschäftigungspotenzial (beinahe) ausschöpfen und keine Verdrängung im grösseren Ausmass stattfindet. Ob die Arbeitslosigkeit ohne Personenfreizügigkeit im Boom noch etwas stärker gesunken wäre, lässt sich nicht überprüfen.

Mismatch von Bildungsangebot und Bildungsnachfrage

Hohe und in der aktuellen Krise merklich steigende Erwerbslosenquoten weisen jene Nationalitätengruppen auf, die schon längere Zeit in der Schweiz weilen (bzw. bereits in der Vorgeneration eingewandert sind) und nicht vorderhand mit dem Vehikel der Personenfreizügigkeit in die Schweiz gelangt sind: Es sind dies Personen aus dem Westbalkan, der Türkei und von ausserhalb Europas. Ihre Erwerbslosenquote betrug im 2. Quartal 2009 zwischen 9,0 % und 13,8 % – gegenüber 3,1 % bei den Schweizern und 4,6 % bei den EU-Angehörigen. Allerdings ist ihre Erwerbslosenquote zum heutigen Zeitpunkt trotz Öffnung zur vollen Personenfreizügigkeit noch weit entfernt von der in der letzten Rezession erreichten Spitze (12 % bis 18 %). Ein wichtiger Grund für die höhere Erwerbslosenquote ist das deutlich unterdurchschnittliche Ausbildungsniveau dieser Personengruppen. Diesem Problem sollte man mit Qualifizierung und Umschulung begegnen. Wenn es gelingt, diese Menschen einer Fachqualifikation zuzuführen, dann trägt dies gleichzeitig zur Linderung des Fachkräftemangels und zur Reduktion der Arbeitslosigkeit bei. Die Zahlen zur Arbeitslosigkeit zeigen, dass man bei der Beurteilung der ausländischen Arbeitnehmerschaft unbedingt differenzieren muss. Viele der heute in der Schweiz wohnhaften ausländischen Arbeitnehmenden sind vor längerer Zeit eingewandert, z. B. aus Italien oder Ex-Jugoslawien. Diese Leute haben gesamthaft gesehen ein deutlich tieferes Bildungsniveau als die neuen Zuwanderer, die mit der Einführung der Personenfreizügigkeit in die Schweiz gekommen sind. Die Struktur der ausländischen Erwerbsbevölkerung wird noch lange Zeit durch die Merkmale der bereits seit Jahren ansässigen ausländischen Bevölkerung definiert. Die Neuorientierung der Migrationspolitik weg von Drittstaaten hin zur EU zeitigt zwar den erwünschten Effekt auf das Ausbildungsniveau der neuen Zuwanderer. Mit rund 30 000 Zuwanderern jährlich (netto) wird es aber Zeit brauchen, bis sich das Qualifikationsniveau der 1,24 Mio. ausländischen Erwerbstätigen verschiebt.

Fazit

In den allermeisten Fällen finden sich keine Hinweise für eine Verdrängung inländischer Erwerbstätiger oder für Lohndruck durch die Zuwanderung von Erwerbspersonen aus dem EU-Raum. Grund für die aktuell geringere, aber nicht versiegende Zuwanderung dürfte der selbst in der Krise anhaltende Fachkräftemangel sein. Die Personenfreizügigkeit erweist sich als ein flexibles System, das auf konjunkturelle Veränderungen reagiert.