Mai 30

Grenzüberschreitende Sozialversicherungen.

Autor: Arbeitgeberverband Basel

Im Rahmen des Personenfreizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU traten am 1. April 2012 zwei neue Verordnungen ( EG Nr. 883 / 2004 und EG Nr. 987 / 2009 ) zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Kraft. Sie betreffen alle Sozialversicherungswerke und wirken wie ein grosses Sozialversicherungsabkommen zwischen allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ( EU ) und des Europäischen Wirtschaftsraums ( EWR ) sowie der Schweiz. (Ein Beitrag von: Dr. iur. Alexander Frei, Arbeitgeberverband Basel).

Kerngedanke ist, dass man auch beim Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat seinen Versicherungsschutz und seine Rentenansprüche nicht verliert. Dies soll Hindernisse für die Arbeitnehmerfreizügigkeit abbauen. Auf den folgenden Seiten wollen wir Sie aus aktuellem Anlass über die wesentlichen Auswirkungen der durch die beiden neuen Verordnungen modernisierten Koordinationsregelungen informieren.

Bedeutung der neuen EU-Verordnungen

Von allen europäischen Rechtsakten haben die Regeln über die soziale Sicherheit im Alltag vermutlich die grösste Bedeutung, da sie Bereiche wie Krankenversicherung, Arbeitslosengeld und Rente regeln. Sie regeln die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sowie der Schweiz zu- und abwandern. Mit Inkrafttreten der beiden neuen Verordnungen ( EG Nr. 883 / 2004 und EG Nr. 987 / 2009 ) zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit wird im grenzüberschreitenden Verkehr zwischen der Schweiz und den 27 EU-Mitgliedstaaten die bisher geltende Verordnung EWG Nr. 1408 / 71 ab dem 1. April 2012 ersetzt. Im Personenverkehr zwischen der Schweiz und den EFTA-Staaten ( Island, Liechtenstein, Norwegen ) bleibt die bisherige Verordnung EWG Nr. 1408 / 71 bis auf weiteres in Kraft, solange die jeweiligen Rechtsgrundlagen nicht an die neue Verordnung EG Nr. 883 / 2004 angepasst werden. In der Schweiz bildet die Alters- und Hinterlassenenversicherung ( AHV ) die «Drehscheibe» für die Sozialversicherungen. Die zuständige AHV-Ausgleichskasse stellt für das ganze Sozialversicherungssystem fest, ob jemand in der Schweiz zu versichern ist. Im Ausland ist dies in der Regel die Krankenversicherung. Die AHVAusgleichskasse regelt auch für alle Sozialversicherungen, wer für welche Aktivitäten als selbständig oder unselbständig erwerbend gilt.

Wesentliche Auswirkungen der neuen Koordinationsregelungen auf die AHV-Unterstellung:

Entsendungen

Die maximale Entsendungsdauer für Arbeitnehmende und Selbständige wird neu von 12 Monaten auf 24 Monate ausgedehnt. Damit selbständig Erwerbstätige, die normalerweise ihre Tätigkeit in der Schweiz ausüben, vorübergehend ihre Tätigkeit in einem EU-Staat ausüben können und den schweizerischen Rechtsvorschriften unterstellt bleiben, muss es sich um eine «ähnliche Tätigkeit» handeln.

Gewöhnliche unselbständige Tätigkeit in mehreren Staaten

Neu wird für die Unterstellung unter die Rechtsvorschriften des Wohnstaates bei gewöhnlicher Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten für einen Arbeitgeber mit Sitz in einem Staat vorausgesetzt, dass ein «wesentlicher Teil» (mind. 25%) der Erwerbstätigkeit im Wohnstaat ausgeübt wird (vgl. Bsp. 2). Personen, die für ihren Arbeitgeber nicht oder nur zu einem unwesentlichen Teil (d.h. weniger als 25%) in ihrem Wohnsitzstaat erwerbstätig sind, sind den Rechtsvorschriften des Staates unterstellt, in dem sich der Arbeitgebersitz befindet (vgl. Bsp. 1) Bei gewöhnlicher Erwerbstätigkeit für mehrere Arbeitgeber mit Sitz in verschiedenen Staaten erfolgt die Unterstellung weiterhin im Wohnstaat, unabhängig davon, ob dort ein wesentlicher Teil der Tätigkeiten ausgeübt wird (vgl. Bsp. 4).

Beispiele:

  1. Schweizerin mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet für ihren Arbeitgeber mit Sitz in Italien zu 80% in Italien und zu 20% in der Schweiz: Unterstellung in Italien (Sitz Arbeitgeber).
  2. Schweizer mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet für seinen Arbeitgeber mit Sitz in Italien zu 70% in Italien und zu 30% in der Schweiz: Unterstellung in der Schweiz (Wohnsitz).
  3. Schweizerin mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet für ihren Arbeitgeber mit Sitz in Deutschland zu 20% in der Schweiz und zu 80% in Italien: Unterstellung in Deutschland (Sitz Arbeitgeber), obwohl sie in Deutschland keiner Arbeitstätigkeit nachgeht.
  4. Schweizer mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet in der Schweiz für einen Arbeitgeber mit Sitz in der Schweiz zu 10% und in Italien für einen Arbeitgeber mit Sitz in Italien zu 90%: Unterstellung in der Schweiz.

Selbständige Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten

Neu wird auch bei den Selbständigen für die Unterstellung unter die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates bei gewöhnlicher Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten vorausgesetzt, dass ein «wesentlicher Teil» (25%) der Erwerbstätigkeit im Wohnsitzstaat ausgeübt wird. Wohnt eine selbständig tätige Person nicht in einem Staat, in welchem sie einen wesentlichen Teil (25%) ihrer Arbeit ausübt, wird sie demjenigen Staat unterstellt, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit befindet.

Beispiele:

  • Schweizer mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet zu 30% in der Schweiz und zu 70% in Frankreich: Unterstellung in der Schweiz.
  • Schweizerin mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet zu 20% in der Schweiz, zu 40% in Deutschland und zu 40% in Frankreich. Einzig in Frankreich verfügt sie über Geschäftsräumlichkeiten inkl. Ladenlokal: Unterstellung in Frankreich. Gewöhnliche (= gleichzeitige ) unselbständige und selbständige Tätigkeit in mehreren Staaten

Mit der neuen Verordnung wird das Prinzip der Unterstellung unter die Rechtsvorschriften eines einzigen Staates vollumfänglich verwirklicht; unter dem bisherigen Recht noch mögliche Doppelunterstellungen fallen gänzlich weg. Personen, die gewöhnlich in mehreren Staaten eine unselbständige und eine selbständige Tätigkeit ausüben, sind künftig ausschliesslich den Rechtsvorschriften desjenigen Staates unterstellt, in dem die Arbeitnehmertätigkeit ausgeübt wird. Dies gilt insbesondere für Personen, die in der Schweiz eine selbständige und in der EU eine unselbständige Tätigkeit ausüben. Arbeitnehmende im internationalen Transportwesen (internationale Luftfahrt oder internationale Schienen- und Strassentransportunternehmen). Die Verordnung EG Nr. 883 / 2004 sieht keine Sondervorschriften für die Versicherungspflicht von Arbeitnehmenden in internationalen Transportbetrieben mehr vor. Die Unterstellung dieser Personen bestimmt sich nach den allgemeinen Unterstellungsregeln (gewöhnliche Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten ).

Geldleistungen

Neu wird der Bezug einer kurzfristigen Geldleistung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt. Bei Personen, die solche Geldleistungen ( z.B. Mutterschaftsentschädigung, Unfalltaggeld) beziehen, gilt der Staat, der diese Leistungen zahlt, als der Erwerbsstaat. Nicht als Geldleistungen gelten Alters-, Invaliditäts- und Hinterlassenenrenten, Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer decken. Auch der Bezug von Krankentaggeldern nach dem VVG entspricht nicht einer Geldleistung im Sinne der neuen Verordnung. Übergangsfrist von zehn Jahren (Bestandesschutz) Personen, die nach den Bestimmungen der neuen Verordnung EG Nr. 883 / 2004 den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates unterliegen als nach dem bisherigen Recht, bleiben während maximal zehn Jahren weiterhin den Rechtsvorschriften des bisherigen Rechts (Verordnung EWG Nr. 1408 / 71) unterstellt, solange sich der zugrunde liegende Sachverhalt nicht ändert.

Sozialversicherungsrechtliche Unterstellung gem. Verordnung EG Nr. 883 / 2004 (Übersicht der häufigsten Konstellationen):