Arbeitszeit: zwischen Kontrolle und Vertrauen
Die Arbeitszeit ist ein Fundament des Erwerbslebens. Sie strukturiert unsere Tage, definiert unsere Leistung und trennt Beruf von Privatleben – zumindest theoretisch. In der Praxis zeigt sich ein anderes Bild: Viele kennen die rechtlichen Grundlagen zur Arbeitszeit nicht, obwohl sie tagtäglich davon betroffen sind. Diese Unkenntnis ist weit verbreitet – bei Mitarbeitenden wie bei Vorgesetzten.
Ein Beispiel: In einem mittelgrossen Industriebetrieb wird die wöchentliche Arbeitszeit seit Jahren mit 48 Stunden angesetzt – ohne vertragliche Absicherung, ohne Verweis auf betriebliche Notwendigkeit. Die Führungskräfte, die diese Vorgabe übernommen haben, sind sich nicht bewusst, dass sie damit gegen das Arbeitsgesetz verstossen. Denn für Industrieangestellte gilt eine gesetzliche Höchstarbeitszeit von 45 Stunden pro Woche. Die Folgen? Rechtliche Risiken, mögliche Sanktionen – und ein schleichender Vertrauensverlust in der Belegschaft.
Zwischen Gesetz und Realität
Das Arbeitsgesetz (ArG) regelt die Höchstarbeitszeit klar: 45 Stunden pro Woche für Büroangestellte, Verkaufspersonal in grossen Detailhandelsunternehmen und industrielle Berufe. Für alle anderen liegt die Grenze bei 50 Stunden. Was simpel klingt, wird durch Ausnahmen relativiert – etwa in Form der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz (ArGV 1), die Ausweitungen bei saisonalen Belastungsspitzen erlaubt.
Ein Beispiel: Im Baugewerbe ist die Witterung ein unberechenbarer Faktor. Im Frühling wird nachgeholt, was der Winter verhindert hat. So arbeiten Bauarbeiter in gewissen Wochen bis zu 54 Stunden – scheinbar unproblematisch, solange über sechs Monate hinweg der Durchschnitt wieder im gesetzlichen Rahmen liegt. Doch wer kontrolliert diesen Durchschnitt? Wer trägt die Verantwortung für die korrekte Erfassung? Und was geschieht, wenn sich niemand zuständig fühlt?
Überstunden und Überzeit – Zahlen mit Gewicht
Zwei Begriffe sorgen immer wieder für Verwirrung: Überstunden und Überzeitarbeit. Der Unterschied ist nicht nur juristisch relevant, sondern auch finanziell und gesundheitlich. Überstunden sind jene Stunden, die über das individuelle Arbeitspensum hinausgehen, aber innerhalb der gesetzlichen Maximalzeit bleiben. Überzeitarbeit hingegen beginnt dort, wo das Gesetz die Obergrenze zieht.
Ein Beispiel: Eine Verkäuferin mit einem 42-Stunden-Vertrag arbeitet vor Weihnachten 48 Stunden pro Woche. Die ersten drei Stunden sind Überstunden – sie können mit Freizeit oder einem Zuschlag von bis zu 125 Prozent kompensiert werden. Die restlichen drei Stunden sind Überzeit – hier ist mindestens ein Zuschlag von 25 Prozent vorgeschrieben, sofern kein Freizeitausgleich vereinbart wurde. Die wenigsten Betroffenen kennen diese Differenzierung – und verzichten damit ungewollt auf ihren gesetzlichen Anspruch.
Zeiterfassung – ein ungeliebtes Werkzeug
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist klar geregelt. Doch der Umgang damit ist alles andere als einheitlich. In vielen Betrieben wird sie als bürokratische Last betrachtet – ein notwendiges Übel. Dabei ist sie in Wahrheit ein zentrales Kontrollinstrument, das den Schutz der Arbeitnehmenden sicherstellen soll.
Ein Beispiel: Ein Start-up erlaubt seinen Mitarbeitenden, ihre Arbeitszeit frei einzuteilen – Zeiterfassung ist ‘nicht nötig’, man vertraue auf Eigenverantwortung und Selbstmanagement. Als ein Entwickler nach drei Jahren eine Burnout-Diagnose erhält und klagt, wird sichtbar, dass in der gesamten Zeit keine systematische Zeiterfassung existierte. Der Betrieb gerät unter Druck: nicht nur juristisch, sondern auch reputationsbezogen. Denn fehlende Dokumentation bedeutet auch: fehlender Schutz.
Das Gesetz schreibt eine systematische Erfassung vor – ausser es handelt sich um gewisse Kaderpositionen oder es besteht eine Vereinbarung nach Artikel 73b ArGV 1. Doch selbst in solchen Fällen müssen grundlegende Daten vorliegen. Und: Die Aufzeichnungen müssen mindestens fünf Jahre aufbewahrt werden – eine Vorgabe, die in vielen Unternehmen stillschweigend ignoriert wird.
Wenn Arbeit in die Nacht fällt
Nachtarbeit (zwischen 23 und 6 Uhr) ist grundsätzlich verboten, es sei denn, eine explizite Bewilligung liegt vor oder eine Ausnahme gemäss ArGV 2 greift. Trotzdem ist sie vielerorts Realität – in Spitälern, Logistikzentren, Flughäfen oder Sicherheitsdiensten.
Ein Beispiel: In einem städtischen Spital arbeiten Pflegefachpersonen regelmässig Nachtschichten. Die gesetzliche Regelung: Wer weniger als 25 Nächte pro Jahr arbeitet, hat Anspruch auf einen Lohnzuschlag von 25 Prozent. Wer mehr als 25 Nächte leistet, erhält stattdessen einen Zeitausgleich von 10 Prozent. Doch die Realität zeigt: Diese Regelung ist kaum bekannt. Manche Arbeitnehmende erhalten keinen Zuschlag, andere keinen Ausgleich. Es fehlt an Klarheit, an internen Richtlinien – und an Kontrolle.
Homeoffice – Freiheit mit Grenzen
Mit der Verlagerung der Arbeit ins Homeoffice hat sich die Debatte um Arbeitszeit verschärft. Zwar gelten die gleichen Regeln wie im Büro – Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten und Pausenpflichten bleiben bestehen. Doch wie kontrolliert man diese, wenn niemand vor Ort ist?
Ein Beispiel: In einem Beratungsunternehmen dürfen Mitarbeitende seit der Pandemie von zu Hause aus arbeiten. Eine junge Projektleiterin berichtet, dass sie oft abends nochmals den Laptop öffnet, um ‘schnell etwas zu erledigen’. Die tägliche Ruhezeit von 11 Stunden wird regelmässig unterschritten. Die Zeiterfassung erfolgt per Selbsteintrag – ohne Überprüfung. Der Arbeitgeber ist sich nicht bewusst, dass er hier haftbar ist. Denn auch im Homeoffice trägt das Unternehmen die Verantwortung für die Einhaltung des Arbeitsgesetzes.
Der unterschätzte Wert der Pause
Das Gesetz kennt klare Vorgaben: Wer mehr als 5,5 Stunden arbeitet, hat Anspruch auf mindestens 15 Minuten Pause. Ab 7 Stunden sind es 30 Minuten, ab 9 Stunden eine ganze Stunde. Pausen müssen dabei die Arbeit unterbrechen – nicht am Ende angehängt werden.
In der Realität sieht das oft anders aus. In der Gastronomie, beispielsweise, nehmen viele Mitarbeitende ihre Pause ‘irgendwann zwischen zwei Gästen’. Man bleibt in Bereitschaft, der Arbeitsplatz darf oft nicht verlassen werden – gesetzlich betrachtet zählen solche ‘Pausen’ nicht. Und dennoch sind sie Alltag. Die Folge: chronische Erschöpfung, fehlende Regeneration – und ein schleichender Leistungsabfall, der sich wirtschaftlich niederschlägt.
Die gefährlich kurze Ruhe
Die tägliche Ruhezeit beträgt laut Gesetz 11 Stunden. Sie darf einmal pro Woche auf 8 Stunden reduziert werden, wenn der Durchschnitt über zwei Wochen wieder stimmt. Diese Regelung schützt vor exzessiven Einsätzen – theoretisch.
Ein Beispiel: In einem Pflegeheim wird dieses Zeitfenster regelmässig unterschritten. Mitarbeitende, die bis 22 Uhr im Spätdienst arbeiten, erscheinen morgens um 7 Uhr wieder zur Arbeit. Die Leitung beruft sich auf ’Personalmangel’. Doch rechtlich handelt es sich um einen Verstoss – mit potenziellen Konsequenzen bei einer Inspektion. Viel schlimmer jedoch: Die Gesundheit der Mitarbeitenden steht auf dem Spiel.
Arbeitsweg, Dienstreise, graue Zonen
Auch beim Arbeitsweg besteht oft Unsicherheit: Grundsätzlich zählt dieser nicht zur Arbeitszeit – ausser, es handelt sich um eine Dienstreise oder der Weg übersteigt die übliche Pendelzeit. Wer also zur Baustelle ausserhalb der Stadt fährt oder für ein Meeting nach Paris reist, hat Anspruch auf entsprechende Arbeitszeitanrechnung. Doch wer dokumentiert das korrekt?
Zum Beispiel: In einem Architekturbüro wird von den Projektleitenden erwartet, dass sie Kundenbesuche auf eigene Faust organisieren – inklusive Reisezeit. Diese wird nicht vergütet. Ein klarer Verstoss, der leicht korrigierbar wäre – wenn die Regeln bekannt wären.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Wer sich nicht an das Arbeitsgesetz hält, setzt nicht nur das Unternehmen aufs Spiel, sondern auch die Integrität der Arbeitskultur. Sanktionen sind möglich – von Geldbussen bis zur Betriebsschliessung. Doch das eigentliche Risiko ist subtiler: Wer gegen das Gesetz arbeitet, riskiert das Vertrauen der Belegschaft, provoziert Krankheitsausfälle und beschädigt seine Attraktivität als Arbeitgeber.
Die Arbeitszeit ist mehr als eine juristische Grösse – sie ist ein Ausdruck dessen, wie wir Arbeit verstehen: als Last oder als Teil eines erfüllten Lebens. Wer hier fair, transparent und gesetzeskonform handelt, tut nicht nur das Richtige – sondern auch das wirtschaftlich Klügste.
Schlussfolgerung: Wissen ist Schutz
Arbeitszeit ist kein Randthema. Sie ist das Rückgrat des Arbeitsalltags – mit weitreichenden Konsequenzen für Gesundheit, Produktivität und Rechtssicherheit. Es ist Zeit, sie wieder ernst zu nehmen. Mit Information, mit Reflexion – und mit dem Mut, Arbeitszeit nicht als Belastung, sondern als Chance für eine bessere Arbeitskultur zu verstehen.
Dazu mehr hier wie folgt: Arbeitsgesetz und Verordnungen