Polygames Arbeiten: Zwischen Homeoffice und Home-Tricksen.
Homeoffice hat die Arbeitswelt revolutioniert – aber vielleicht auch ein bisschen korrumpiert. Was als pragmatische Lösung in der Pandemie begann, wurde für viele zur Wohlfühlzone. Der Arbeitsweg entfiel, der Feierabend rückte näher an den Schreibtisch und die Kaffeemaschine war nur wenige Schritte entfernt. Klingt verlockend? Ist es auch.
Doch die neue Nähe von Beruf und Privatleben hat auch Nebenwirkungen. Plötzlich verschwimmen die Grenzen. Der Job wird flexibel – und mit ihm auch die ethischen Massstäbe mancher Arbeitnehmenden. Wo niemand kontrolliert, wächst die Versuchung. Manche haben diesen Umstand zur Kunstform erhoben: Willkommen im Zeitalter des polygamen Arbeitens.
Polygames Arbeiten – ein britischer Exportschlager?
In Grossbritannien hat man dem Kind bereits einen Namen gegeben. ‘Polygames Arbeiten’ nennt sich der Trick, mehrere Vollzeitstellen gleichzeitig zu besetzen und dabei alle Arbeitgebende in dem Glauben zu lassen, sie hätten die volle Aufmerksamkeit ihrer Mitarbeitenden. Das klingt absurd – und ist es auch. Aber leider auch sehr lukrativ. Laut britischen Behörden haben sich clevere Schummler bereits Millionen erschlichen. Und auch wenn die Schweiz noch keine Schlagzeilen dieser Grössenordnung produziert hat, darf man sich keine Illusionen machen. Trends aus dem angelsächsischen Raum schaffen es mit einer gewissen Verzögerung fast immer auch in hiesige Breitengrade. Die Frage ist nicht, ob das Thema aktuell wird. Sondern wann.
Dabei offenbart dieser Trend eine tiefere Krise der modernen Arbeitswelt. Viele Unternehmen setzen auf Kontrolle statt auf Vertrauen — ein idealer Nährboden für Täuschungsmanöver. Wer in mehreren Jobs gleichzeitig agiert, nutzt gezielt die zunehmende Entfremdung im Homeoffice aus. Oft bleibt die Leistung dabei nicht einmal hinter den Erwartungen zurück, was die Entdeckung zusätzlich erschwert.
Personalabteilungen und Vorgesetzte stehen vor völlig neuen Herausforderungen in der Führung der Mitarbeitenden. Klare Regeln zur Verfügbarkeit und Leistungsdokumentation werden immer wichtiger. Gleichzeitig wirft das Phänomen ethische Fragen auf: Wie viel Loyalität darf ein Arbeitgebender überhaupt verlangen? Und wie viel Verschleierung ist Mitarbeitenden moralisch noch erlaubt? Der Trend zeigt vor allem eines: Die Spielregeln der Erwerbsarbeit befinden sich im radikalen Umbruch. Wer heute nicht über neue Formen der Arbeitsorganisation nachdenkt, könnte morgen schon zu den Verlierern zählen.
Zwei Arbeitgeber, ein Laptop, null schlechtes Gewissen?
Das Rezept für polygames Arbeiten ist simpel: Zwei Jobs, zwei Firmen, aber nur ein Schreibtisch. Zwischen den Fenstern hin und her switchen, schnell das Logo im Videocall anpassen, und schon ist man von Team A zu Team B gewechselt. Klingt harmlos? Ist es nicht. Multitasking ist in Wahrheit ein Mythos. Wer versucht, zwei Jobs gleichzeitig zu erledigen, macht keinen von beiden richtig. Qualität bleibt auf der Strecke, Deadlines werden zur Glückssache, und Kolleg:innen dürfen ausbaden, was andere verursacht haben.
Noch gravierender: Der Schaden bleibt oft unsichtbar — bis es zu spät ist. Projekte verzögern sich, Fehler schleichen sich ein, und die Teamdynamik leidet massiv unter der fehlenden Verlässlichkeit. Wer ständig zwischen Aufgaben und Verantwortlichkeiten jongliert, setzt sich selbst massivem Stress aus. Die dauerhafte Reizüberflutung lässt keine echte Konzentration mehr zu.
Studien belegen: Dauerhafte kognitive Überlastung führt zu Erschöpfung, Gereiztheit und schlussendlich zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen. Doch der Preis wird nicht nur individuell gezahlt. Unternehmen riskieren Reputationsverluste, wenn polygame Arbeitende ihre Aufgaben nur halbherzig erfüllen. Auch das Betriebsklima verschlechtert sich, wenn Teammitglieder das Gefühl haben, für die Nachlässigkeit anderer mitarbeiten zu müssen.
Zudem drohen rechtliche Konsequenzen. Wer ohne Offenlegung mehrere Arbeitsverhältnisse parallel führt, kann gegen arbeitsrechtliche Pflichten und Treuepflichten verstossen. Trotz aller technischen Möglichkeiten bleibt Loyalität ein zentraler Wert im Arbeitsverhältnis — oder sollte es zumindest bleiben. Polygames Arbeiten mag kurzfristig verlockend erscheinen, doch langfristig ist es ein Spiel mit hohem Risiko. Sowohl für die Arbeitnehmenden selbst als auch für die Unternehmen, die auf ihre volle Leistungsfähigkeit und Verfügbarkeit angewiesen sind.
Wenn Loyalität zur Auslaufware wird
Ein Handschlag galt etwas, Verlässlichkeit war eine Selbstverständlichkeit. Heute? Flexibilität wird über alles gestellt. Wer seinen Marktwert kennt, spielt Arbeitgebende gegeneinander aus. Wer sich geschickt anstellt, optimiert nicht nur seine Work-Life-Balance, sondern auch seinen Kontostand – auf Kosten anderer. Doch die Rechnung geht selten langfristig auf. Vertrauen ist ein empfindliches Gut. Wird es einmal missbraucht, lässt es sich nur schwer wiederherstellen. Und während polygame Arbeitnehmende kurzfristig profitieren, zahlen Unternehmen und ehrliche Kolleginnen und Kollegen den Preis.
Die Folgen sind gravierender, als es auf den ersten Blick scheint. Teams werden destabilisiert, weil das Gefühl der Fairness verloren geht. Loyalität und Einsatzbereitschaft schwinden, wenn Einzelne sich offensichtlich Vorteile verschaffen. Für Vorgesetzte wird es immer schwieriger, echte Leistungsträger zu erkennen und zu halten. Konflikte unter Mitarbeitenden nehmen zu — Neid und Missgunst sind die natürlichen Begleiter solcher Schieflagen. Auch die Identifikation mit dem Arbeitgeber sinkt rapide, wenn das Wir-Gefühl Risse bekommt. Unternehmen verlieren nicht nur Produktivität, sondern auch kulturelle Stärke.
Besonders prekär wird es, wenn Know-how-Träger ihre Aufmerksamkeit splitten und dadurch wichtige Projekte ins Stocken geraten. Schliesslich bleibt die Frage: Wie lange kann ein System funktionieren, in dem jeder nur noch für sich selbst spielt?
Ein Schweizer Sonderfall – noch?
Die Schweiz ist keine Insel. Auch wenn Pünktlichkeit, Disziplin und Vertragstreue hierzulande hoch im Kurs stehen, bedeutet das nicht, dass die Versuchung nicht vorhanden ist. Insbesondere im Bereich der Wissensarbeit, wo Leistung schwer messbar und Kontrolle oft verpönt ist, könnten clevere Arbeitnehmende in Versuchung geraten. Gerade in der IT-Branche, im Projektmanagement oder in beratenden Tätigkeiten sind die Voraussetzungen ideal. Remote Work, flexible Arbeitszeiten und wenig physische Präsenzpflicht laden förmlich dazu ein, sich doppelt und dreifach einzuspannen.
Doch Vorsicht: Die Schweiz hat vielleicht eine entspannte Art, aber ihre Gesetze sind alles andere als lax. Obligationenrecht und Strafgesetzbuch kennen bei Betrug keine Gnade. Wer erwischt wird, riskiert nicht nur die fristlose Kündigung, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen. Selbst die Rückzahlung von bereits erhaltenem Lohn kann auf dem Spiel stehen. Noch gravierender: Der Reputationsverlust ist oft irreparabel — in einem kleinen Land wie der Schweiz spricht sich Fehlverhalten schnell herum.
Zudem könnte das Vertrauen in flexible Arbeitsmodelle nachhaltig erschüttert werden. Unternehmen, die sich einmal betrogen fühlen, reagieren oft mit verschärften Kontrollmechanismen und weniger Freiheiten für die Belegschaft. Damit trifft polygames Arbeiten am Ende auch jene, die sich fair und korrekt verhalten. Ein Schweizer Sonderfall mag das Phänomen noch sein — aber der Grat zwischen clever und kriminell ist schmal. Und er wird von Jahr zu Jahr rutschiger.
Wo fängt Betrug an – und wo hört er auf?
Das ethische Dilemma ist offensichtlich. Wer zwei Jobs in Teilzeit kombiniert, weil er offen kommuniziert und beide Seiten zustimmen, handelt legitim. Wer aber vorgibt, einen 100%-Job auszufüllen, während er gleichzeitig für einen zweiten Arbeitgeber tätig ist, überschreitet eine klare Grenze. Juristisch wird die Sache brenzlig, sobald Täuschung im Spiel ist. Das kann von Vertragsverletzung bis hin zu handfestem Betrug reichen. Und es geht nicht nur um Geld: Auch Betriebsgeheimnisse und Datenschutz geraten plötzlich in Gefahr, wenn Mitarbeitende mehrere Arbeitgebende gleichzeitig bedienen.
Die Parallelbeschäftigung ohne Wissen der Beteiligten ist mehr als nur ein Graubereich — sie untergräbt das Fundament jeder vertrauensvollen Zusammenarbeit. Besonders prekär wird es, wenn sensible Kundendaten oder vertrauliche Geschäftsinformationen im Spiel sind. Hier kann der Vorwurf der unlauteren Geschäftspraktiken rasch Realität werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Fairness gegenüber Kolleg:innen, die sich voll und ganz ihrem Arbeitgeber verschreiben. Wer im Verborgenen zwei Hüte trägt, entzieht sich nicht selten auch der vollen Verantwortlichkeit.
Auch der psychologische Aspekt ist nicht zu unterschätzen: Ständige Heimlichkeit und die Angst vor Entdeckung können zur mentalen Belastung werden. Ausserdem ist die juristische Grauzone kleiner als viele glauben — die Schweizer Rechtsprechung kennt beim Missbrauch von Arbeitsverträgen klare Regeln. Letztlich bleibt eine bittere Erkenntnis: Was als pragmatische Optimierung beginnt, kann sehr schnell zur existenziellen Bedrohung für alle Beteiligten werden.
Helden der Effizienz oder Getriebene der Gier?
Man könnte meinen, polygame Arbeitnehmende seien die neuen Superhelden der Arbeitswelt – multitaskingfähige Übermenschen, die spielend mehrere Jobs meistern. Die Realität ist weniger glamourös. Die meisten dieser vermeintlichen Multijobber stehen unter Dauerstrom, schlafen schlecht und sind ständig auf der Flucht vor dem nächsten Fauxpas. Über kurz oder lang kippt das System. Fehler schleichen sich ein, Deadlines werden verpasst, und die Belastung wird unerträglich. Kein Wunder, dass viele ‘Polygame’ spätestens nach zwei Jahren ausbrennen oder auffliegen.
Hinter dem vermeintlichen Erfolg lauert die permanente Angst vor Entdeckung. Jeder Kalendereintrag, jeder Anruf und jede Abwesenheit müssen minutiös geplant werden, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Die doppelte Buchführung im Kopf wird zur mentalen Zerreissprobe. Beziehungen im privaten Umfeld leiden, weil echte Erholung kaum noch möglich ist. Auch die Loyalität gegenüber den Arbeitgebern schwindet – der Job wird zur reinen Einnahmequelle, emotionale Bindung gibt es kaum noch.
Hinzu kommt: Wer permanent zwischen verschiedenen Unternehmenskulturen und Anforderungen wechselt, verliert langfristig an Tiefe und Identifikation. Kreativität und Innovationskraft bleiben auf der Strecke, weil keine der Rollen wirklich ausgefüllt wird. Statt als Helden der Effizienz enden viele dieser Arbeitnehmenden als tragische Figuren in einem selbst aufgebauten Hamsterrad. Polygames Arbeiten mag kurzfristig glänzen — doch der Preis ist oft höher, als es die Bilanz vermuten lässt.
Warum Vertrauen immer noch die härteste Währung bleibt
Gerade in der Schweiz gilt: Ein gutes Arbeitsverhältnis basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Wird dieses durch Täuschung beschädigt, ist der Schaden meist irreparabel. Polygames Arbeiten gefährdet nicht nur den einzelnen Betrieb, sondern schwächt die gesamte Arbeitskultur. Denn je mehr Misstrauen wächst, desto stärker werden Kontrollen – und desto unfreier wird die Arbeitswelt für alle. Ein Bumerang, der schmerzhaft zurückkommen kann.
Vertrauen ermöglicht überhaupt erst flexible Arbeitsmodelle wie Homeoffice und Gleitzeit. Ohne diese Basis werden Freiheiten schnell wieder eingeschränkt. Wenn immer mehr Arbeitgebende jeden Klick überwachen müssen, leiden Motivation und Kreativität.
Mitarbeitende fühlen sich in einem Klima des Generalverdachts weniger wertgeschätzt und entfremden sich von ihren Arbeitgebern. Die Folge: Höhere Fluktuation, sinkende Loyalität und steigende Kosten für Rekrutierung und Einarbeitung.
Polygames Arbeiten ist deshalb kein Kavaliersdelikt, sondern ein Symptom für eine tiefere Schieflage. Wer kurzfristig profitiert, sägt langfristig am Ast, auf dem alle sitzen. Besonders in einem kleinen, vernetzten Land wie der Schweiz sind die Konsequenzen spürbar: Rufschädigung und Vertrauensverluste verbreiten sich rasch und nachhaltig.
Vertrauen bleibt deshalb die härteste und zugleich sensibelste Währung der Arbeitswelt – und sie verdient es, geschützt zu werden.
HR in der Pflicht: Wegschauen war gestern
Personalverantwortliche und Führungskräfte können es sich nicht leisten, dieses Thema zu ignorieren. Stattdessen braucht es klare Spielregeln, wie Homeoffice gestaltet wird. Was heisst Erreichbarkeit? Wie wird Leistung gemessen? Und vor allem: Welche Erwartungen bestehen bezüglich Exklusivität und Loyalität? Gleichzeitig gilt es, Anzeichen für polygames Arbeiten frühzeitig zu erkennen. Unerklärliche Verzögerungen, widersprüchliche Aussagen oder ständige Nichterreichbarkeit können Hinweise sein. Hier ist Fingerspitzengefühl ebenso gefragt wie Konsequenz.
Doch Regeln alleine reichen nicht. Es braucht offene Kommunikation, die Mitarbeitende nicht unter Generalverdacht stellt, sondern für die Bedeutung von Verbindlichkeit sensibilisiert. Führungskräfte sollten regelmässig das Gespräch suchen und ein Klima schaffen, in dem Bedenken offen angesprochen werden können. Auch HR-Abteilungen müssen ihre Rolle neu definieren — weg von der reinen Verwaltung, hin zum aktiven Kultur- und Vertrauensmanagement.
Darüber hinaus sollten technische Lösungen nicht tabu sein. Smarte Tools zur Projekt- und Leistungserfassung können Transparenz schaffen, ohne die Privatsphäre übermässig zu verletzen. Parallel dazu braucht es Schulungen, die Führungskräfte befähigen, Anzeichen von Überforderung oder Illoyalität richtig einzuordnen. Nicht zuletzt ist Prävention entscheidend. Wer faire Arbeitsbedingungen bietet, Perspektiven aufzeigt und ein starkes Wir-Gefühl etabliert, macht es polygamem Verhalten von vornherein schwerer. HR steht somit an der Frontlinie eines kulturellen Balanceakts – und Wegschauen ist definitiv keine Option mehr.
Polygames Arbeiten: ein Spiel ohne Gewinner
Am Ende bleibt ein nüchternes Fazit: Polygames Arbeiten mag kurzfristig lukrativ sein, doch langfristig schadet es allen Beteiligten. Arbeitnehmende riskieren Überlastung und Rufschädigung, Unternehmen verlieren Geld, Zeit und Vertrauen. Die Arbeitgebenden in der Schweiz haben es in der Hand, aus den Fehlern anderer zu lernen. Statt in die Falle der Flexibilitäts-Euphorie zu tappen, wäre es klüger, wieder auf das zu setzen, was uns stark gemacht hat: Verlässlichkeit, Fairness und Respekt im Arbeitsalltag.
Denn am Ende zählt nicht, wie viele Jobs jemand gleichzeitig jongliert. Sondern wie gut er seinen einen Job macht. Doch genau diese Haltung droht in der modernen Arbeitswelt unterzugehen. Schnelligkeit, Selbstvermarktung und Maximierung gelten oft mehr als Beständigkeit und Loyalität. Dabei zeigen Studien eindeutig: Teams, die auf Vertrauen und Verlässlichkeit bauen, sind nachhaltiger erfolgreich.
Arbeitgebende stehen vor einer Richtungsentscheidung. Wollen sie blinden Output forcieren oder langfristig tragfähige Beziehungen zu ihren Mitarbeitenden aufbauen? Auch die Politik ist gefragt, klare Rahmenbedingungen zu schaffen, die Exklusivität und Transparenz fördern.
Mitarbeitende wiederum sollten sich ehrlich fragen, welchen Preis sie für kurzfristige Gewinne zu zahlen bereit sind. Denn wer sich in den Strudel polygamer Arbeitsverhältnisse begibt, spielt mit der eigenen Gesundheit, seiner Glaubwürdigkeit — und letztlich mit seiner beruflichen Zukunft. Am Ende bleibt: Polygames Arbeiten kennt keine echten Sieger, nur Verlierer auf allen Seiten.