Okt. 24

Das Arbeitsgesetz von gestern, ‚verregelt‘ die Arbeit von morgen…

Author: PersonalRadar

Es gibt Dinge, die altern in Würde: Wein, Holz, Bücher, Menschen, Demokratie. Und dann gibt es das Schweizer Arbeitsgesetz. Es steht da wie ein Museumsstück aus einer Zeit, in der Arbeit nach Öl und Schmierfett roch, Hierarchien betoniert waren und ‘Home Office’ etwas mit dem Wohnzimmerteppich zu tun hatte.

(Bildquelle: www.freepik.com)

Das Gesetz von 1964 war einst ein Fortschritt, ein Schutzschild gegen die Ausbeutung im Maschinenzeitalter. Heute wirkt es wie eine Vorschrift aus einer vergangenen Welt: gut gemeint, schlecht gealtert, und vor allem völlig aus der Zeit gefallen.

Die Arbeitswelt hat sich fleissig weitergedreht. Arbeit ist mobil, hybrid, digital, emotional, manchmal sogar kreativ. Sie geschieht zwischen zwei Zoom-Meetings, im Pendelzug, am Küchentisch oder im Kopf. Auch nachts, wenn man längst offiziell ‘Ruhezeit’ hat.

Doch der Staat misst sie weiterhin mit der Präzision eines Stempelkartenlesers von 1972. Die Schweiz, sonst stolz auf Innovation und Präzision, erfasst Arbeit, als wäre sie ein Uhrwerk, das man alle acht Stunden aufziehen muss.

Die Folge: Ein Gesetz, das schützen will, fesselt. Es behandelt mündige Menschen wie ungezogene Lernende und verwechselt Selbstverantwortung mit Selbstgefährdung. Und während man anderswo schon über ‘Work-Life-Blending’, KI-Kooperation und Vertrauenskultur diskutiert, zählt die Schweiz brav Minuten. Willkommen im Paragrafenparadies. Betreten auf eigene Gefahr.

Die historische Trägheit eines Fortschritts

(Bildquelle: www.freepik.comDas Arbeitsgesetz war einst revolutionär. Ein Manifest gegen die industrielle Ausbeutung. Es erklärte, dass Menschen keine Maschinen sind und Pausen kein Luxus. Es schuf Ordnung, wo Willkür herrschte. Doch was einst Befreiung war, ist heute Fessel.

Die Welt der Arbeit hat sich längst aus der Fabrik befreit. Denken ist die neue Schwerarbeit, Kreativität die neue Produktion. Aber das Gesetz versteht davon nichts. Es misst den Wert von Arbeit immer noch in Stunden, als wäre Denken ein linearer Prozess und Ideen liessen sich in Minuten abrechnen.

Eine Softwareentwicklerin arbeitet in Sprints, nicht in Schichten. Ein Projektleiter denkt in Zeitzonen, nicht in Stempelkarten. Eine Pflegefachfrau trägt emotionale Lasten, die kein Gesetzbuch kennt. Das alles passt in kein Formular und genau das ist das Problem.

Das Gesetz hat vergessen, dass Fortschritt auch Umwandlung heisst. Es schützt eine Vorstellung von Arbeit, die längst Vergangenheit ist. Und während es vorgibt, den Menschen zu bewahren, konserviert es vor allem eine Illusion: die des kontrollierbaren Arbeitnehmers.

So ist aus arbeitsmoralischer Ethik Bürokratie geworden. Und aus Schutz Kontrolle. Ein Paragraf, der nicht mehr schützt, sondern hemmt, ist kein Fortschritt, sondern einfach liebgewonnene Nostalgie mit Stempelkarte.

Ordnung als nationales Selbstbild

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Ordnung ist in der Schweiz mehr als Tugend. Sie fast Religion. Wir lieben Listen, Vorschriften, Reglemente, Anordnungen, Erlasse, Arbeitszeiten und Excel-Spalten. Ordnung gibt uns das gute Gefühl von Sicherheit, auch wenn sie längst schnöd zur Kontrolle erstarrt ist.

Das Arbeitsrecht institutionalisiert dieses nationale Sicherheitsbedürfnis. Statt Vertrauen herrscht Misstrauen mit Stempeluhr. Statt Eigenverantwortung Pflicht zur Selbstüberwachung. Wir nennen es ‘Transparenz’, ein schöner Euphemismus für Misstrauen auf Papier.

In der Finanzbranche dokumentieren Mitarbeitende minutiös, wann sie beginnen, wann sie atmen und wann sie wieder aufhören dürfen zu existieren. Offiziell heisst das ‘Compliance’, in Wahrheit ist es ein digitaler Pranger. Der Schweizer Reflex: Gleichheit um jeden Preis. Jeder soll gleich behandelt werden, auch wenn das heisst, alle falsch zu behandeln. Ein Forscher, eine Pflegekraft, ein UX-Designer und eine Verkäuferin sollen sich denselben Regeln unterwerfen, als wären ihre Realitäten identisch.

Das ist keine Fairness, das ist Gleichmacherei im Dienst der Bürokratie. Und wie immer, wenn alles gleich ist, wird niemand wirklich verstanden.

Wenn Schutz zum Hindernis wird

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Das Arbeitsgesetz schützt alle und trifft dabei erstaunlich oft die Falschen. Es macht keinen Unterschied zwischen dem, der Schutz braucht, und der, der längst gelernt hat, Verantwortung zu tragen.

Eine Architektin, die um Mitternacht noch eine Skizze überarbeitet, weil sie tagsüber bei Kunden war, begeht offiziell ein Vergehen. Ein Arzt, der am Sonntag Berichte schreibt, weil er in der Woche keine Zeit findet, ebenfalls. Beide handeln professionell, nicht selbstzerstörerisch. Doch das Gesetz kennt keine Grautöne.

Diese Starr- und Sturheit produziert Heuchelei. In vielen Unternehmen wird das Gesetz schlicht ignoriert mit stiller Billigung aller Beteiligten. Die Realität verlangt Flexibilität, die Vorschrift verbietet sie. Also fälscht man Zeiten, bucht Stunden um, macht aus Pflicht Vertrauenstheater.

Alle wissen es, keiner spricht darüber. Aber ein Gesetz, das nur funktioniert, wenn man es bricht, ist kein Gesetz, sondern eine Farce. Und doch verteidigen Behörden und Gewerkschaften es, als handle es sich um die letzte Bastion der arbeitsrechtlichen Moral und Aufrichtigkeit.

Vielleicht wäre der ehrlichere Weg: weniger Kontrolle, mehr Urteilskraft. Aber das verlangt Mut und den kann man leider nicht protokollieren.

Die Blindheit der Zahl

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Das Gesetz glaubt an Zahlen wie ein mittelalterlicher Alchemist an Gold. Arbeit ist für den Staat messbar, zählbar, quantifizierbar in Tagen, Stunden, Minuten, Sekunden. Doch was, wenn das Wichtigste nicht zählbar ist?

Eine Stunde tiefer Konzentration kann mehr Wert schaffen als zehn Stunden sinnloser Sitzungen. Doch im Gesetz gilt: Zehn ist mehr als eins. Willkommen in der alchemistischen Mathematik des Mittelmasses.

In einem Spital rackert eine Pflegefachfrau an der physischen und psychischen Grenze und gilt rechtlich gleich wie jemand, der sich acht Stunden lang durch Mails klickt. Das Gesetz sieht die Arbeitsdauer, nicht die Arbeitsdichte. Diese Arithmetik der Arbeitswelt schafft die Illusion von Gerechtigkeit. Wer sich brav an die Zeit hält, gilt als ‘gesetzeskonform’. Wer flexibel denkt, gilt als ‘problematisch’. Das System belohnt Anpassung, nicht Intelligenz.

Arbeit ist kein Messwert, sondern ein menschlicher Prozess. Doch wer das sagt, riskiert eine Kontrolle.

Die unsichtbare Realität der modernen Arbeit

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Die Arbeitsrealität des 21. Jahrhunderts hat das Gesetz längst überholt, elegant, leise, unaufhaltsam. In Start-ups, Laboren, Medienhäusern und globalen Konzernen zählt nicht mehr die Zeit, sondern das Ergebnis.

  • Eine Projektleiterin in Zürich arbeitet abends mit New York, weil dann ihre Geschäftspartner den Arbeitstag starten.
  • Ein Lehrer korrigiert nachts Hausaufaufgaben, weil er nicht schlafen kann und ihn die Arbeit entspannt für die nächste Runde Schlaf.
  • Eine Sozialarbeiterin schreibt am Sonntag Berichte, weil sie dann endlich ihre Ruhe hat und sich auf die Arbeit konzentrieren kann.

Nicht, weil diese Berufsleute müssen, sondern weil die Realität es verlangt. Das ist gelebte Verantwortung, keine Gesetzesübertretung.

Doch der Paragraf kennt keine Lebensrealität. Er erklärt solche Normalität zur Sünde. Er misst Arbeit an der Stechuhr, obwohl sie längst im Kopf stattfindet. Damit entwertet das Gesetz die Tugenden moderner Arbeit: Freiheit, Engagement, Selbststeuerung. Es degradiert Selbstverantwortung zu einem Risiko und macht aus erwachsenen Menschen ungewollte Schutzbefohlene.

Wer heute arbeiten will, wie die Welt es verlangt, muss sich zwischen Ehrlichkeit und Gesetz entscheiden. Und das ist nicht Fortschritt, sondern Rückschritt im Narrenkleid des Arbeitsschutzes.

Vertrauen als verlernte Kultur

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Die Schweiz vertraut ihren Bürger:innen beim Autofahren, beim Abstimmen, beim Waffenbesitz, beim Ausfüllen der Steuererklärung und vielem anderen, aber partout nicht bei der Arbeitszeit. Es gab immer wieder Versuche testweise die Zeiterfassung abzuschaffen.

Das Ergebnis produzierte meistens: mehr Produktivität, mehr Zufriedenheit, weniger Burnout. Nach einiger Zeit stoppten die Arbeitsinspektorate die Versuche. Begründung: zu viel Freiheit. So scheitert Vertrauen nicht am Menschen, sondern am System. Wir haben Verlässlichkeit verordnet, aber Misstrauen institutionalisiert.

Dabei ist Vertrauen keine Utopie, sondern eine Kompetenz. Es erfordert Urteilskraft, Kommunikation, Verantwortung. Alles Dinge, die man in keinem Paragraf nachlesen kann und in der modernen Arbeitswelt ein Muss sind.

Ein modernes Arbeitsrecht müsste Vertrauen fördern, nicht Kontrolle perfektionieren. Es müsste akzeptieren, dass Freiheit kein Risiko ist, sondern ein Zeichen von Reife. Doch Reife lässt sich eben nicht beaufsichtigen.

Die neuen Gefahren der Arbeit

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Die Gefahren von heute sind leiser, aber zerstörerischer. Sie heissen Informationsflut, Dauerstress, Erreichbarkeitszwang. Sie töten nicht den Körper, sondern die Konzentration. Das Gesetz reagiert darauf mit denselben Rezepten wie in den Sechzigern: Pausenregelung, Ruhezeit, Stempelkarte.

Als würde ein Burnout verschwinden, wenn man es in Minuten unterteilt. Psychische Gesundheit ist längst das neue Thema der Arbeitswelt. Doch im Gesetz existiert sie nur am Rand. Dabei wäre sie das Zentrum jeder modernen Arbeitspolitik.

Unternehmen müssten verpflichtet werden, digitale Erholungsräume zu schaffen, Kommunikationszeiten zu begrenzen, Fokusarbeit zu fördern. Ein echter Schutz würde nicht die Zeit, sondern die Belastung regulieren. Doch das verlangt ein anderes Denken: weniger Kontrolle, mehr Bewusstsein. Und davon steht leider nichts in der Verordnung.

Mut zur Differenzierung

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Nicht jede Arbeit ist gleich, also darf auch Schutz nicht uniform sein. Doch das Schweizer System liebt Einheitlichkeit wie andere Leute Schokolade. Ein Maurer braucht physische Erholung, ein UX-Designer mentale Distanz. Eine Krankenschwester kämpft mit Überforderung, ein Softwarearchitekt mit Überhitzung des Geistes.

Ein Gesetz, das alle gleich behandelt, ist nicht gerecht, sondern blind. In Skandinavien haben Sozialpartner begonnen, Schutz und Flexibilität branchenspezifisch zu verhandeln. Dort vertraut man auf Dialog statt auf Paragrafenfetischismus. Der Staat prüft Wirkung, nicht Uhrzeiten.

Die Schweiz könnte das auch, wenn sie den Mut hätte, Gleichheit nicht mit Gerechtigkeit zu verwechseln. Doch Mut ist hierzulande selten gesetzeskonform.

Arbeit als Ausdruck von Reife

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Das Ziel ist nicht Deregulierung, sondern Differenzierung. Ein modernes Arbeitsgesetz müsste Verantwortung dorthin verlagern, wo sie hingehört, in die Betriebe, in die Teams, in die Köpfe.

Der Staat muss nicht immer misstrauisch sein, sondern sollte Mindeststandards sichern, nicht Lebensrhythmen vorschreiben. Er soll schützen, wo Schutz nötig ist und vertrauen, wo Mündigkeit herrscht. Denn viele Menschen werden nicht durch Arbeit krank, sondern durch ihre Entwertung. Wer Sinn, Selbstbestimmung und Vertrauen erfährt, braucht keine staatliche Aufsicht.

Das Arbeitsgesetz von 1964 war ein Meilenstein. Heute ist es ein Stolperstein. Es stellte einst den Menschen über die Maschine. Jetzt stellt es die Vorschrift über den Menschen. Die Schweiz braucht kein lockeres Gesetz, sondern ein reifes. Eines, das Vertrauen institutionalisiert, Verantwortung ermöglicht und Realität anerkennt.

Wenn die Schweiz modern bleiben will, muss sie ihr Arbeitsrecht entrümpeln, nicht, um mehr zu arbeiten, sondern um besser zu arbeiten und daraus auch besser zu leben. Denn Arbeit ist längst mehr als Erwerb. Sie ist Identität, Verantwortung, Sinn. Und ein Gesetz, das das nicht versteht, ist nicht fortschrittlich, sondern schlicht von gestern.