Krankentaggeld in der Schweiz: Ein System mit Lücken und offenen Fragen
Die Krankentaggeldversicherung in der Schweiz ist ein zentraler Pfeiler der sozialen Absicherung, bleibt aber in vielerlei Hinsicht unvollständig.
Anders als die obligatorische Krankenversicherung ist sie nicht für alle Arbeitnehmenden verpflichtend. Dies führt zu einer Situation, in der Versicherungsdeckung und Leistungen stark variieren, je nach Arbeitgeber, Branche und individuellen Vereinbarungen. Für Arbeitnehmende bedeutet dies ein erhebliches Risiko, insbesondere im Krankheitsfall.
Während die Krankenversicherung die medizinischen Kosten übernimmt, sorgt die Krankentaggeldversicherung dafür, dass erkrankte Arbeitnehmende weiterhin ein Einkommen erhalten. Doch was auf den ersten Blick als verlässliche Absicherung erscheint, offenbart bei genauer Betrachtung erhebliche Schwachstellen. Wer nicht versichert ist oder nur über eine begrenzte Deckung verfügt, steht im Falle einer längeren Arbeitsunfähigkeit vor grossen finanziellen Herausforderungen.
Ein lückenhaftes System: Wer ist versichert, wer nicht?
Das schweizerische System beruht auf der Grundannahme, dass Arbeitgebende ihren Mitarbeitenden eine Krankentaggeldversicherung anbieten.
Eine gesetzliche Verpflichtung dazu gibt es jedoch nicht.
Das führt zu einem heterogenen Bild: Während grössere Unternehmen oft umfassende Lösungen implementieren, verzichten kleinere Betriebe aus Kostengründen oder Unkenntnis auf eine solche Versicherung.
Ein weiteres Problem liegt in der mangelnden Transparenz. Viele Arbeitnehmende wissen nicht genau, ob und in welchem Umfang sie versichert sind. Häufig wird das Thema erst akut, wenn eine längere Krankheit tatsächlich eintritt. In diesem Moment zeigt sich, dass die Versicherungsdeckung oft nicht ausreicht oder nach einer bestimmten Zeit – in der Regel zwei Jahre – endet. Wer dann noch nicht wieder arbeitsfähig ist, fällt unter das System der Invaliditätsversicherung, was mit erheblichen finanziellen Einbussen verbunden ist.
Rechtliche Unsicherheiten und wirtschaftliche Folgen
Die derzeitige gesetzliche Regelung schafft nicht nur Unsicherheiten für Arbeitnehmende, sondern auch für Arbeitgebende. Während in vielen Ländern klare, verpflichtende Lösungen existieren, bleibt es in der Schweiz weitgehend dem Markt überlassen, wie das System ausgestaltet wird. Dies führt dazu, dass Unternehmen je nach wirtschaftlicher Lage und strategischer Ausrichtung sehr unterschiedliche Versicherungsmodelle anbieten.
Diese Unterschiede haben konkrete wirtschaftliche Konsequenzen. Arbeitnehmende, die über keine oder nur eine unzureichende Krankentaggeldversicherung verfügen, sind im Krankheitsfall finanziell verwundbar. Dies kann dazu führen, dass sie aus wirtschaftlicher Not zu früh an den Arbeitsplatz zurückkehren und ihre Gesundheit weiter gefährden. Gleichzeitig steigen die Belastungen für Sozialversicherungen und staatliche Unterstützungssysteme, da nicht versicherte Arbeitnehmende letztlich auf andere Leistungen angewiesen sind.
Ein Blick ins Ausland: Wie andere Länder das Problem lösen
Vergleicht man die Schweiz mit anderen europäischen Ländern, wird deutlich, dass viele Staaten längst verbindliche Regelungen zur Krankentaggeldversicherung getroffen haben. In Deutschland oder Österreich beispielsweise ist die Absicherung im Krankheitsfall fester Bestandteil des Systems. Arbeitnehmende sind automatisch versichert, und die Leistungen sind klar geregelt.
Die Schweiz hingegen setzt auf ein Modell, das auf Freiwilligkeit und individuelle Vertragsgestaltung setzt. Während dies theoretisch Flexibilität schafft, führt es in der Praxis jedoch dazu, dass viele Menschen unzureichend abgesichert sind. Das Risiko wird auf die Einzelpersonen abgewälzt, anstatt eine kollektive Lösung zu schaffen, die allen Arbeitnehmenden eine existenzsichernde Absicherung garantiert.
Mögliche Reformen: Wie sich das System verbessern liesse
Um die bestehenden Probleme zu lösen, müsste die Schweiz grundlegende Reformen anstreben. Eine naheliegende Option wäre die konsequente Einführung einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung für alle Arbeitnehmenden, analog zur Krankenversicherung. Dies würde sicherstellen, dass niemand ungewollt ohne Absicherung bleibt und dass Mindeststandards für die Dauer und Höhe der Leistungen definiert werden.
Auch die Transparenz müsste verbessert werden. Viele Arbeitnehmende erfahren erst im Krankheitsfall, ob sie genügend versichert sind und welche Leistungen ihnen zustehen. Eine gesetzliche Verpflichtung zur regelmässigen Information über den Versicherungsstatus und die bestehenden Leistungen könnte hier Abhilfe schaffen.
Darüber hinaus könnte eine Verlängerung der Leistungsdauer geprüft werden. Derzeit endet die Krankentaggeldversicherung in vielen Fällen nach maximal zwei Jahren. Danach bleiben Betroffene entweder ohne Einkommen oder müssen auf die Invaliditätsversicherung ausweichen, die mit deutlichen finanziellen Einbussen verbunden ist. Eine längerfristige Absicherung könnte verhindern, dass Menschen aufgrund einer längeren Erkrankung in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.
Es besteht Handlungsbedarf
Die aktuelle Regelung zur Krankentaggeldversicherung schafft erhebliche Unsicherheiten und birgt soziale wie auch wirtschaftliche Risiken. Die Freiwilligkeit, die eigentlich Wahlfreiheit suggeriert, führt in der Praxis dazu, dass viele Arbeitnehmende unzureichend abgesichert sind. Dies betrifft insbesondere jene, die in befristeten oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten – also genau jene Gruppen, die besonders auf eine verlässliche Absicherung angewiesen wären.
Ein modernes Sozialversicherungssystem muss sicherstellen, dass alle Arbeitnehmenden im Krankheitsfall finanziell abgesichert sind. Die Schweiz hat hier Reformbedarf – nicht nur aus sozialer Verantwortung, sondern auch aus wirtschaftlicher Vernunft. Die aktuelle Lösung ist weder gut noch gerecht. Es ist an der Zeit, dieses System in die Moderne zu führen.