Aug. 19

Coaching: Empowerment oder bloss ein teures Placebo?

Author: PersonalRadar

Was bedeutet die neue Zärtlichkeit der Arbeitswelt? Die moderne Arbeitswelt spricht plötzlich leise. Zwischen Kennzahlen und Kostenzielen treten Worte wie Achtsamkeit, Resilienz, Selbstwirksamkeit. Kaum eine Organisation, die nicht verspricht, Menschen ‘auf ihrem Weg zu begleiten’.

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Hinter dem freundlichen Vokabular steckt eine neue Praxis: bezahlte Aufmerksamkeit. Zuhören, Spiegeln, Strukturgeben als achtsame Dienstleistung. Das ist nicht zwangsläufig schlecht. Aber es verlagert die Frage: Wird hier wirklich geholfen oder wird Verunsicherung veredelt und danach für gutes Geld verkauft?

Diese neue Sanftheit wirkt beinahe paradox, weil sie in einer Umgebung entsteht, die ansonsten von unterkühlter Effizienzlogik durchdrungen ist. Dass dieselben Unternehmen, die Druck erzeugen, auch die Beruhigung verkaufen, zeigt die Ambivalenz moderner Führungskultur.

Man könnte sagen: Organisationen produzieren heftige Stürme mit Sturzregen und bieten gleichzeitig die Schirme an.

Die eigentliche Herausforderung besteht darin, zu unterscheiden, ob es sich um ernstgemeinte Fürsorge oder um symbolische Fassadenpflege handelt. Denn dort, wo Empathie nur inszeniert ist, droht sie zur Zynismusfalle zu werden.

Die Ökonomie der Verunsicherung

Veränderung ist zur Konstante geworden. Rollenprofile wandeln sich, Projekte verkürzen sich, Entscheidungen werden datengetrieben und gleichzeitig politischer. In dieser Lage steigen zwei Kurven parallel:

  • der Bedarf nach Orientierung und
  • das Angebot an Orientierung.

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Dort, wo Organisationen keine stabilen Rahmen bieten (klare Prioritäten, realistische Pensen, verlässliche Führung), entsteht ein Vakuum, das Coaching füllt. Die Nachfrage ist also kein Zufall, sondern Symptom einer Struktur, die Unsicherheit produziert und dann in Einzelgesprächen wieder ‘bearbeiten’ lässt.

Die Logik erinnert an die Konsumgesellschaft: Zuerst schafft man Mangel, dann verkauft man die Lösung. Coaching profitiert also nicht nur von Krisen, sondern oft von bewusst hergestellter Instabilität. Je flexibler Märkte werden, desto grösser die Chance, dass Mitarbeitende den Halt im Coaching suchen.

Damit wird Unsicherheit zur Ressource, nicht für die Betroffenen, sondern für jene, die Orientierung als Dienstleistung verkaufen. Wer das versteht, erkennt, dass Coaching weniger Privileg als Symptom einer dysfunktionalen Arbeitsordnung ist.

Von Struktur zu Subjekt: Die stille Verschiebung

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Ein zentrales Muster unserer Zeit ist die Individualisierung von Problemen. Friktionen, die aus Prozessen, Zielen oder Macht entstehen, werden zu ‘Mindset-Themen’. Statt ‘Unsere Planung ist unrealistisch’ heisst es: ‘Dein Fokus fehlt.’ Statt ‘Die Rolle ist widersprüchlich’ lautet die Diagnose: ‘Du setzt Grenzen nicht klar genug.’ So wandert das Problem vom System in die Person, elegant, kosteneffizient, politisch oder betriebswirtschafltich bequem.

Diese Individualisierung ist nicht bloss sprachliche Kosmetik, sondern eine Verschiebung von Verantwortung. Organisationen sparen sich den mühsamen Umbau von Strukturen, indem sie Verhalten korrigieren wollen. Das wiederum führt zu einer subtilen Schuldlogik: Wer nicht klarkommt, trägt die Verantwortung selbst.

Damit wird Coaching zum Disziplinierungsinstrument im Mantel der Selbsthilfe. Man könnte sagen: Die therapeutische Sprache entpolitisiert die strukturelle Realität und das macht sie so wirkungsvoll wie gefährlich.

Empathie als Dienstleistung: Die Affektökonomie im Büro

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Coaching verkauft nicht nur Methoden, sondern Gefühle: Zugehörigkeit, Gesehenwerden, Bedeutsamkeit. Affekte werden zur Währung. Daran ist nichts Anrüchiges. Menschen brauchen Resonanz.

Fragwürdig wird es, wenn Resonanz zum Ersatz wird: Wenn das Teamgespräch einbricht, aber der 60-Minuten-Slot beim Coach funktioniert. Dann stabilisiert die Dienstleistung eine Beziehungslücke, statt sie zu schliessen.

Die Arbeitswelt scheint immer weniger Orte für unverkäufliche Nähe zu kennen. Kaffeepausen sind knapp, Feedbackrunden ritualisiert, Führungsgespräche formalisiert. In dieses Vakuum tritt der Coach und bietet jene gewünschte Aufmerksamkeit, die im Alltag verloren geht.

Das ist wirksam, aber auch bedenklich, denn Empathie wird dadurch an einen ‚Befindlichkeits-Markt‘ ausgelagert. Am Ende bleibt die Frage: Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der aktives Zuhören zu einem kostspieligen Premiumprodukt wird?

Die Bühne der Methoden: Performanz statt Substanz

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Der Coaching-Markt liebt grosse Schlagworte: vom ‘Mikro-Habit’ bis zur ‘Radikal-Reflexion’. Solche Begriffe klingen wichtig wie auch eindrucksvoll und vermitteln das Gefühl, schon die Methode selbst garantiere den Erfolg. In Wirklichkeit ist aber entscheidend, ob die Methode wirklich zur Situation passt: Geht es um die Art des Problems, den Reifegrad der Organisation, die Belastbarkeit der betroffenen Person, den zeitlichen Rahmen oder die Erfahrung des Coaches? Wenn diese Faktoren nicht stimmig sind, bleibt die Methode nur eine Show, überzeugend im Auftritt, aber schwach in der Substanz.

So gleicht manches Coaching eher einem Theaterstück: Es sorgt für Begeisterung im Moment, doch im Alltag ändert sich kaum etwas. Der Applaus ist gross, die Wirkung klein. Das Problem: Viele verwechseln den Glanz einer Methode mit echter Qualität.

Ein seriöser Ansatz erkennt, dass wirkliche Veränderung selten in einem Workshop passiert, sondern im Alltag, in den konkreten Entscheidungen, Prozessen und Handlungen. Methoden, die diesen Transfer nicht schaffen, bleiben bunte Bühnenbilder, schön anzuschauen, aber ohne bleibenden Effekt.

Das Regulierungsparadox: Titel geschützt, Adjektive frei

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In vielen beruflichen Feldern sind Berufsbezeichnungen geschützt, Adjektive aber nicht. Das schafft Spielräume: ‘psychologisch’, ‘systemisch’, ‘neuro-…’, all dies klingt sehr seriös und bleibt doch rechtlich oft dehnbar. Für die Praxis heisst das: Qualität ist ohne Prüfmechanismus schwer erkennbar. So entstehen Informationsasymmetrien.

Die Anbieterseite weiss, was sie kann (oder nicht). Die Nachfrageseite sieht die Website, die Worte, den Preis. Das ist eine klassische Marktlogik asymmetrischer Information: Vertrauen ersetzt Evidenz.

Kunden kaufen Versprechen, ohne ihre Substanz wirklich einschätzen zu können. Hier zeigt sich, wie dringend ein professionelles Gütesiegel wäre, nicht zur Ausgrenzung, sondern zur Orientierung. Denn solange Worte wie ‘systemisch’ frei eingesetzt werden können, ist jede Website potenziell ein Verkleidungsspiel.

Wer einkauft, sollte daher weniger auf Etiketten, mehr auf überprüfbare Praxis setzen. Das verlangt Zeit, kritisches Denken und die Bereitschaft, hinter die Fassade zu blicken.

Führung im Spiegel: Entlastung oder Stellvertreterkonflikt?

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Coaching für Führungskräfte ist verbreitet und oft auch sehr sinnvoll. Der blinde Fleck: Es kann zum Stellvertreterspiel werden. Statt einen Zielkonflikt auf der Führungsebene auszutragen (Kosten vs. Qualität; Tempo vs. Sorgfalt), bearbeitet man subtil die Person, die zwischen den Polen steht.

Kurzfristig verbessert das die Handlungsfähigkeit. Langfristig konserviert es den Zielkonflikt. So werden Führungskräfte zu Pufferzonen, die die Energie des Konflikts absorbieren sollen.

Das entlastet das System, verschleisst aber die Einzelnen. Coaching wird dann nicht zum Hebel, sondern zum Sicherheitsventil, das systemische Widersprüche abdämpft.

Ein intelligenter Einsatz erfordert darum eine Klarheit über Ebenen: Person, Team, Organisation. Erst wenn diese Trennung bewusst gemacht wird, entfaltet Coaching seine Wirkung. Sonst stabilisiert es den Status quo, während die eigentlichen Konflikte unberührt bleiben.

Die Schattenseite des Algorithmus: Angebot findet Bedürfnis

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Digitale Plattformen zeigen: Wer nach ‘Hilfe’ sucht, bekommt tonnenweise, zuweilen obskure Angebote, die genau diese Sehnsucht geschickt spiegeln. Das ist bequem und gefährlich. Denn die digitale Trefferquote basiert selten auf Qualitätssicherung, sondern auf Reichweite und Resonanz. So entstehen Echokammern der Versprechen.

In der Berufswelt heisst das: Wer erschöpft ist, findet sofort ‘Energie-Programme’; wer zweifelt, findet ‘Klarheits-Rituale’. Der kurze Weg ins Angebot kann der lange Weg um die Ursache sein. Die Mechanik dahinter ist bekannt: Algorithmen belohnen emotionale Trigger, nicht fachliche Substanz.

Das bedeutet, dass gerade verletzliche Menschen auf jene Anbietenden treffen, die am lautesten versprechen. Damit wächst die Gefahr der Instrumentalisierung.

Anstelle von Fürsorge wird Bedürftigkeit zu einer Ressource, die hemmungslos monetarisiert wird. Ein ethisch sensibler Umgang mit digitalen Angeboten ist deshalb keine Kür, sondern Pflicht.

Qualität ohne Namen: Woran man Seriosität erkennt

Ohne auf Personen oder Institutionen zu verweisen, lassen sich vier robuste Kriterien formulieren:

  1. Kontextkompetenz: Seriöse Begleitung versteht Organisationen als Systeme mit Zielen, Regeln, Macht und Kultur.
  2. Prozess statt Event: Wirkung entsteht selten in einem heroischen Workshop.
  3. Transparenz über Grenzen: Gute Anbieter:innen sagen, was sie nicht tun.
  4. Messbare Hypothesen: Nicht alles ist quantifizierbar, aber prüfbar.

Diese Kriterien wirken banal, sind aber in einem Markt voller psychologischer Glitzerworte radikal. Denn sie erinnern daran, dass Seriosität nicht an schwurbelnden Metaphern hängt, sondern an Klarheit. Wer ein Angebot nach diesen Punkten prüft, entlarvt Blender:innen in Minuten.

Doch die Realität zeigt: Viele Entscheider:innen lassen sich lieber von einer vernebelnden Sprache verzaubern, als von Fakten ernüchtern. Coaching ist eben auch ein Spiegel der Sehnsucht nach Orientierung, Einfachheit, Hoffnung.

HR im Dilemma: Kümmern ohne zu vereinnahmen

Professionelles Personalmanagement steht auf einer schmalen Linie. Es soll Menschen unterstützen, darf aber nicht zur indirekten Verhaltenspolizei werden. Drei Spannungsfelder sind typisch:

  • Freiwilligkeit vs. Erwartungsdruck
  • Fürsorge vs. Leistung
  • Vertraulichkeit vs. Steuerung

Dieses Dilemma lässt sich nicht auflösen, nur gestalten. HR muss zugleich Brücke und Grenze sein. Das bedeutet, Vertrauen ernst zu nehmen, ohne die Unternehmensziele aus den Augen zu verlieren.

Es bedeutet auch, nicht in die Falle der ‘Zwangsfürsorge’ zu geraten. Denn was gut gemeint ist, kann paternalistisch wirken. Coaching ist hier nicht Lösung, sondern Prüfstein: Wie ernst meint eine Organisation ihre Fürsorge wirklich?

Wann Coaching sinnvoll ist und wann sicher nicht

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Sinnvoll ist Coaching, wenn eine fähige Person in einer klaren Rolle vor echten Dilemmata steht und Handlungsoptionen erweitern will. Nicht sinnvoll ist es, wenn: strukturelle Missstände individualisiert werden, psychische Krisen vorliegen, Machtfragen kaschiert oder Pflichtübungen verordnet werden.

Die Faustregel: Coaching ist kein Ersatz für Führung, keine Abkürzung in Transformation und schon gar nicht eine Therapie light. Das klingt nüchtern, hat aber weitreichende Konsequenzen. Denn wer Coaching missbraucht, verlängert Probleme, statt sie wirklich zu lösen. Umgekehrt entfaltet es dort enorme Wirkung, wo Grenzen respektiert werden. Coaching ist weder Heilsbringer noch Scharlatanerie, sondern ein Werkzeug. Wie jedes Werkzeug kann es aufbauen oder zerstören. Entscheidend ist der Kontext, die Absicht, die Klarheit.

Jenseits der Mode: Was tatsächlich wirkt

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Drei unscheinbare Praktiken schlagen manche glitzernde Methode:

  • Klarheit der Arbeit,
  • Qualität der Gespräche und
  • Verantwortung der Führung.

Diese Schlichtheit irritiert, weil sie im Widerspruch zum bunten Markt steht. Doch wer den Alltag kennt, weiss: Menschen brauchen weniger Spektakel als Klarheit. Eine klare Priorität kann mehr bewirken als zehn nutzlose Workshops.

Ein ehrliches Gespräch am Arbeitsplatz ersetzt manchmal einen ganzen Coachingzyklus. Und eine Führungskraft, die Verantwortung übernimmt, ist wirksamer als jedes Mindset-Programm. Das Einfache bleibt das Schwierige und das Nachhaltige.

Ethische Leitplanken für den Einkauf

Wer extern einkauft, sollte sich vier Fragen stellen:

  • Zweck
  • Risiko
  • Transparenz
  • Exit

Eine Massnahme, die diese Fragen nicht aushält, gehört nicht in die Organisation. Diese Leitplanken sind kein Luxus, sondern Pflicht. Denn ohne sie verkommt Coaching zur Mode, die man hirnlos konsumiert, ohne sie zu reflektieren.

Ethische Klarheit bedeutet auch: nicht alles einkaufen, was glänzt. Manchmal ist die ehrlichste Antwort, auf Coaching zu verzichten und die Energie in echte Strukturarbeit zu stecken. Wer das wagt, zeigt mehr Mut als der, der den nächsten Trend kauft.

Der leise Humor der Selbstsorge

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Augenzwinkernd gesagt: Wir brauchen weniger Heilsformeln und mehr Handläufe im Treppenhaus. Weniger Pilgerreisen ins Offsite und mehr gute Sitzungen im Alltag. Weniger ‘Mindset-Blockaden’ und mehr gut geölte Prozesse.

Selbstsorge darf gerne modern klingen, aber sie bleibt eine schlichte Kulturtechnik. Dazu gehört auch, den Alltag nicht unnötig zu mystifizieren. Wer Pausen einhält, Grenzen setzt und Konflikte früh anspricht, lebt bereits Selbstsorge. Das klingt unpoetisch, ist aber substanziell.

Denn am Ende entscheidet nicht die Rhetorik, sondern die Praxis. Humorvoll betrachtet: Manchmal bewirkt eine offene Tür mehr als ein teures Achtsamkeitsseminar.

Zurück zur Beziehung ohne Preisliste

Coaching kann auf jeden Fall Türen öffnen. Es wird jedoch problematisch, wenn es zum Türsteher der gesamten Arbeitswelt wird. Wo Unsicherheit systematisch produziert und dann individualtherapeutisch befriedet wird, verliert Arbeit ihre Öffentlichkeit und Gemeinschaft.

Die reifere Antwort liegt weniger in Programmen als in Haltungen:

  • Verantwortlichkeit in der Führung
  • Klarheit in der Arbeit
  • Schutz durch gute Regeln
  • echte Gesprächskultur

Am Ende bleibt ein einfacher Gedanke: Menschen brauchen mehr echte Beziehungen, nicht mehr bezahlte Empathie. Wenn wir das ernst nehmen, wird Coaching nicht verschwinden, aber es wird seinen Platz neu finden. Als Ergänzung, nicht als Ersatz. Als Impuls, nicht als Ersatzhandlung.

Und als Erinnerung, dass die stärkste Ressource in Organisationen nie ein Werkzeug oder eine Methode ist, sondern das Zwischenmenschliche selbst.