Pensionskassenguthaben auf einen Schlag – ein riskanter Traum?
Wer heute in der Schweiz pensioniert wird, steht vor einer folgenreichen Entscheidung: Soll das angesparte Pensionskassenguthaben als lebenslange Rente ausbezahlt werden oder als Kapital in einem einzigen Schritt?
Immer mehr Versicherte wählen die zweite Variante und damit die Freiheit, aber auch das Risiko. Was auf den ersten Blick als rationales Kalkül erscheint, ist bei genauerer Betrachtung Ausdruck eines tiefer liegenden Misstrauens in die Sicherheit des Schweizer Vorsorgesystems und fordert vermehrt auch die Unternehmen und ihre HR-Abteilungen stark heraus.
Die Zahlen sprechen eine überdeutliche und klare Sprache: Gemäss der Neurentenstatistik des Bundes bezogen 2023 erstmals mehr Personen Kapital (41%) als eine Rente (40%). Weitere 19% entschieden sich für eine Mischform. Dieser Trend ist keine Momentaufnahme, sondern das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklung. Er spiegelt wirtschaftliche, demografische, psychologische und systembedingte Faktoren wider und ist eng mit der Rolle der Arbeitgebenden verknüpft.
Die Rentenformel verliert an Attraktivität
Ein wesentlicher Treiber dieses Trends ist der sinkende Umwandlungssatz. Dieser Wert bestimmt, wie hoch die jährliche Rente ausfällt, die aus dem angesparten Alterskapital generiert wird. Lag dieser Satz vor gut 20 Jahren bei rund 7%, liegt er heute in vielen überobligatorischen Plänen bei 5% oder sogar noch tiefer. Das heisst: Aus CHF 500’000 Alterskapital werden im besten Fall noch CHF 25’000 Franken Rente pro Jahr, notabene vor Steuern.
Der Umwandlungssatz muss jedoch nicht nur tief, sondern auch nachhaltig sein. Und hier zeigt sich die strukturelle Krux des bestehende Rentensystems: Die Menschen leben heute einfach viel länger, die medizinische Versorgung ist top in der Schweiz, aber das Kapital reicht nicht mehr aus, um 25 oder gar 30 Jahre Rente zu finanzieren.
Die Pensionskassen müssen diese Lücke auf Teufel komm raus mit konservativen Prognosen abfedern, was den Umwandlungssatz weiter drückt. Das Ergebnis ist eine Spirale: Sinkende Sätze führen zu tieferen Renten, was wiederum den Kapitalbezug attraktiver und als einzig vernünftige Lösung erscheinen lässt.
Die Illusion der Kontrolle
Viele Menschen ziehen den Kapitalbezug nicht nur aus Misstrauen in die Rente in Betracht, sondern auch aus einem übersteigerten Wunsch nach Kontrolle über die eigenen Finanzen. Sie möchten selbst entscheiden, wann und wie viel Geld sie im Alter ausgeben. Das klingt nach selbstbestimmter Unabhängigkeit. Doch diese kann sehr schnell überfordern. Studien aus der Verhaltensökonomie zeigen, dass Menschen gerade bei langfristigen Finanzentscheidungen häufig kognitiven Verzerrungen unterliegen. Sie überschätzen ihre Lebenserwartung oder unterschätzen sie, je nachdem, was ihnen emotional näherliegt. Oder sie treffen spontane Konsumentscheidungen, die sich langfristig als total ruinös erweisen.
Besonders kritisch wird es, wenn gesundheitliche Einschränkungen hinzukommen: Wer mit 65 geistig fit ist, kann zehn Jahre später möglicherweise nicht mehr dieselben vernünftigen Entscheidungen treffen.
Die Verwaltung eines grösseren Vermögens setzt aber nicht nur profundes Fachwissen, sondern auch psychische Stabilität voraus. Krankheiten wie Demenz oder Depressionen machen Kapitalverwaltungen nahezu unmöglich. Wer schützt in solchen Fällen vor finanzieller Selbstschädigung? Das bestehende System bietet hier bislang kaum Absicherungen und Brandmauern.
Der Einfluss der Finanzindustrie
Ein weiterer, oft unterschätzter Einflussfaktor ist die allgegenwärtige Finanzindustrie. Banken, Anlageberater:innen und Versicherungsgesellschaften haben ein ureigenes Interesse daran, dass Versicherte ihre Pensionskassengelder als Kapital beziehen, denn nur dann entstehen für sie Geschäftsmöglichkeiten. Wer seine Rente bezieht, hat keinen Bedarf an Portfolio-Management, Anlageberatung oder Fondsprodukten. Wer aber Kapital bezieht, ist ein potenziell lukrativer Kunde, der Beratung nötig hat.
Hier besteht ein struktureller Interessenskonflikt. Viele Beratungsgespräche sind faktisch Verkaufsveranstaltungen. Die Empfehlung ‘nehmen Sie das Kapital, investieren Sie bei uns’ ist selten neutral. Gerade Menschen ohne fundiertes Finanzwissen sind leichte Beute.
Die Folge: Sie landen in überteuerten oder ungeeigneten Produkten oder verlieren im schlimmsten Fall viel Geld bei Börsencrashs, während Rentenbezüger:innen geschützt wären.
Gesellschaftliche Risiken eines individuellen Entscheids
Die wachsende Beliebtheit des Kapitalbezugs hat nicht nur individuelle Folgen, sondern auch systemische. Das Rentensystem basiert auf dem Solidaritätsprinzip. Wer lange lebt, profitiert. Wer früh stirbt, finanziert indirekt die anderen mit. Dieses Gleichgewicht wird durch die Kapitalauszahlung unterlaufen. Menschen, die sich für den Kapitalbezug entscheiden, entziehen dem System die kollektive Sicherheit und riskieren, im Alter auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, wenn das Kapital aufgebraucht ist.
Der Kapitalbezug verlagert Verantwortung vom Kollektiv auf das Individuum mit all den sozialen Ungleichheiten, die damit einhergehen.
Besonders betroffen sind vulnerable Gruppen:
- Frauen mit Erwerbsunterbrüchen,
- Personen mit tiefer Bildung,
- Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder
- solche mit tiefem Einkommen.
Viele von ihnen beziehen Kapital, weil sie sich keine Rente leisten können, nicht, weil es die bessere Wahl ist. Das Problem ist bekannt und verlangt nach pragmatischen politischen Lösungen.
Was das für Arbeitgebende bedeutet
HR-Abteilungen geraten zunehmend in eine wichtige Schlüsselrolle. Sie sind für viele Arbeitnehmende die erste Anlaufstelle für Fragen zur Pensionierung und sie sind es auch, die Verantwortung übernehmen müssen, wenn Mitarbeitende schlecht vorbereitet in den Ruhestand starten.
Doch viele Unternehmen sind auf diese Rolle nicht vorbereitet oder schlicht überfordert. Die meisten führen keine systematischen Vorsorgegespräche durch, bieten keine individuellen Simulationen an und stellen nur Basisinformationen zur Verfügung.
Dabei wäre genau das nötig: Eine proaktive Vorsorgekultur, die diesen Namen auch verdient. Mitarbeitende sollten idealerweise ab dem 50. Lebensjahr regelmässig über ihren Pensionskassenstand informiert werden. Sie sollten verstehen, was ein Umwandlungssatz ist, wie sich verschiedene Modelle auf ihre Altersversorgung auswirken und welche steuerlichen Konsequenzen sich ergeben. Die Personalabteilung kann hier eine Vermittlerrolle übernehmen, zwischen Pensionskassen, neutralen Beratenden und den Versicherten.
Die Rolle der Unternehmen: Von der Lohnzahlung zur Lebensbegleitung
Vieles ist im Umbruch. Wer Menschen über Jahre beschäftigt, trägt auch Verantwortung dafür, dass sie in eine stabile Pensionierung übergehen können. Unternehmen, die diese Verantwortung ernst nehmen, stärken nicht nur ihre Attraktivität als Arbeitgebende, sondern auch das Vertrauen in ihre Fürsorgepflicht.
Einige vorbildliche Firmen bieten bereits heute sogenannte ‘Pensionsvorbereitungstage’ an, führen individuelle Rentensimulationen durch oder arbeiten mit unabhängigen Vorsorgeexpert:innen zusammen.
Andere haben interne Coaches ausgebildet, die Mitarbeitende in den letzten Berufsjahren begleiten. Diese Angebote zahlen sich doppelt aus: Sie reduzieren Fehlentscheidungen beim Kapitalbezug und stärken die Identifikation mit dem Unternehmen. Auch für jüngere Generationen, die später auf solch interne Dienstleistungen angewiesen sind.
Steuerfallen und vermeintliche Vorteile
Ein oft genannter Vorteil des Kapitalbezugs ist die tiefere Besteuerung. Doch auch hier lohnt sich ein zweiter Blick. Zwar wird der Kapitalbezug getrennt vom übrigen Einkommen einmalig versteuert. Das scheint auf den ersten Blick die günstigere Variante zu sein. Doch danach unterliegt das Kapital der Vermögenssteuer und die daraus resultierenden Erträge (z.?B. Zinsen, Dividenden) dem Einkommen. Je nach Wohnkanton kann die Belastung erheblich sein.
Zudem zeigen Modellrechnungen, dass es im Schnitt mehr als ein Jahrzehnt dauert, bis sich ein Kapitalbezug steuerlich lohnt. Wer also im Alter von 65 Kapital bezieht und mit 80 stirbt, hat finanziell oft schlechter abgeschnitten als jemand, der eine Rente bezogen hat.
Und: Sollte der Bundesrat seine Pläne zur steuerlichen Erhöhung von Kapitalbezügen umsetzen, verlängert sich dieser Zeithorizont nochmals. Der oft zitierte Steuervorteil ist somit keineswegs sicher.
Schlussfolgrung: Eine Entscheidung mit Tragweite
Die Entscheidung ‘Kapital oder Rente?’ ist keine reine Rechenaufgabe. Sie ist ein Abwägen zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Verantwortung und Vertrauen. Sie ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels, hin zu mehr Individualisierung, aber auch mehr Risiko.
Für HR-Verantwortliche heisst das: Aufklärung, Begleitung und vorausschauende Kommunikation werden zur Pflicht. Wer den Mitarbeitenden bei dieser wichtigen Weichenstellung hilft, leistet einen Beitrag zu deren Sicherheit und zur Stabilität des gesamten Vorsorgesystems.