Juni 26

Reform oder Rückschritt? Was hinter der Verschärfung der Rentenansprüche steckt.

Author: PersonalRadar

Die Altersvorsorge der Schweiz steht unter Druck. Mit über 2,5 Millionen Leistungsbeziehenden und einer jährlichen Ausgabensumme von rund 50 Milliarden Franken ist die AHV längst zum grössten Umverteilungsmechanismus des Landes geworden.

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Die finanzielle Belastung wächst, nicht nur durch demografische Verschiebungen, sondern auch durch politische Entscheidungen wie die Einführung der 13. AHV-Rente. In diesem Spannungsfeld, aus steigenden Kosten und gesellschaftlichen Erwartungen, entstehen regelmässig neue Reformvorschläge, die den Zugang zur Altersrente neu regeln oder einschränken wollen.

Ein solcher Vorschlag sorgt aktuell für Aufsehen: Die Mindestbeitragsdauer für den Bezug einer AHV-Rente soll von einem auf drei Jahre angehoben werden. Dabei steht viel mehr auf dem Spiel als eine rein technische Anpassung. Es geht um die Frage, wie offen unser System sein soll, für Menschen, die nur zeitweise Teil des Arbeitsmarktes sind. Der Rentenanspruch ist ein Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung für geleistete Arbeit, auch wenn diese nur über einen begrenzten Zeitraum erfolgt ist. Wer hier den Zugang einschränkt, muss sich fragen lassen, welches Bild von Arbeit und Teilhabe er damit fördert.

Der Vorschlag: Drei Jahre Einzahlung als Eintrittsbillett

Gemäss geltendem Recht genügt bereits ein einziges Beitragsjahr in der AHV, um im Rentenalter eine (wenn auch notabene stark gekürzte) Altersrente zu beziehen. Kritische Stimmen aus der Politik finden das unverhältnismässig. Wer nur kurzfristig Beiträge leiste, dürfe keinen lebenslangen Leistungsanspruch erwarten. Diese Kräfte fordern deshalb, die Mindestdauer für AHV-Beiträge auf drei Jahre zu erhöhen. Für die Invalidenversicherung soll die Schwelle gar auf fünf Jahre steigen.

Was auf den ersten Blick nach einer pragmatischen Massnahme klingt, birgt bei näherem Hinsehen weitreichende soziale Konsequenzen. Denn viele Betroffene würden künftig ganz aus dem System fallen, trotz geleisteter Arbeit und bezahlter Beiträge. Die Regelung würde einen klaren Systembruch bedeuten: Von einem beitragsbasierten zu einem mehrjährigen Mindestaufenthaltssystem. Eine solche Schwelle hat starke Exklusionseffekte und stellt das bis anhin eherne Solidaritätsprinzip der AHV infrage. Damit werden nicht nur administrative Kriterien verschärft, sondern auch normative Wertungen über ‘würdige’ Lebensläufe eingeführt.

Zielgruppe implizit mitgemeint: Die temporär Zugewanderten

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Auch wenn der Vorstoss allgemein formuliert ist, zielt er in der Praxis auf eine klar umrissene Bevölkerungsgruppe: auf Menschen mit Migrationshintergrund, die nur für eine begrenzte Zeit in der Schweiz gearbeitet haben. Viele von ihnen leisten wertvolle Arbeit in der Pflege, auf dem Bau oder in der Logistik, meist unter prekären Bedingungen und für begrenzte Zeiträume. Und genau diese Personen wären es, die durch die geplante Regelung künftig leer ausgehen würden. Dies wirft grundlegende Fragen auf:

  • Wie definieren wir Zugehörigkeit in einem System der sozialen Sicherung?
  • Und ist ein begrenzter Arbeitsaufenthalt weniger wert, wenn er nicht lebenslang in der AHV verankert ist?

Es wäre zu kurz gegriffen, den Fokus rein auf Finanzierungsaspekte zu richten. Denn wer hier lebt und arbeitet, soll nicht bloss als temporäre Ressource betrachtet werden. Der soziale Zusammenhalt hängt davon ab, ob auch befristete Arbeit gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Eine Integrationspolitik, die den sozialen Rückhalt systematisch beschneidet, produziert neue Spannungen, nicht nur in der Sozialversicherung, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt.

Wer Zugehörigkeit nur über Dauer definiert, ignoriert die Realität von globalisierter Erwerbsarbeit.

Der Gerechtigkeitsdiskurs: Beitrag versus Bezugsdauer

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Der Begriff der ‘Gerechtigkeit’ wird im politischen Diskurs häufig bemüht, so auch in diesem Fall. Es erscheine ungerecht, dass jemand mit nur einem Beitragsjahr Anspruch auf eine Rente habe, während andere über Jahrzehnte hinweg in das System einzahlen müssten. Diese Argumentation überzeugt auf den ersten Blick. Doch Gerechtigkeit ist kein eindimensionales Konzept. Sie lässt sich nicht allein an der Beitragsdauer festmachen.

Soziale Gerechtigkeit bedeutet auch, asymmetrische Lebensläufe zu berücksichtigen, etwa bei Migration, Care-Arbeit oder Krankheit. Wer nur kurzfristig arbeitet, hat oft keine Wahl, sondern folgt Arbeitsbedingungen, wie sie der Markt diktiert. Ausserdem lebt Gerechtigkeit vom Vertrauen in faire Regeln, die Leistungen anerkennen, auch wenn sie nicht lebenslang erbracht werden konnten. Eine zu enge Definition von Gerechtigkeit produziert Ausschlüsse statt Teilhabe. Die Frage ist daher nicht, wer ‘genug’ gezahlt hat, sondern ob unser System den gesellschaftlichen Realitäten noch gerecht wird.

Was sagen die Zahlen?

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Eine nüchterne Betrachtung der Daten zeigt: Der finanzielle Effekt einer solchen Verschärfung wäre gering. Laut Bundesamt für Sozialversicherungen wären rund 160’000 Personen betroffen, doch sie beziehen bereits heute sehr tiefe Renten. Die daraus resultierenden Einsparungen wären laut BSV ‘sehr klein’ und kaum spürbar für das Gesamtsystem. Die Aussage, damit liesse sich die AHV entlasten, scheint daher vor allem symbolischen Charakter zu haben. Effizienzgewinne wären nur marginal.

Zudem müsste die Reform mit Übergangsregeln ausgestattet werden, die ihrerseits Aufwand erzeugen. Härtefallklauseln, Rückabwicklungen und rechtliche Klärungen würden das System komplexer statt einfacher machen. Ein schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis droht. Wer Bürokratieabbau will, sollte klare und universelle Regeln schaffen, nicht neue Hürden einführen. Reformen mit geringer fiskalischer Wirkung, aber hohem sozialen Risiko, sollten kritisch hinterfragt werden.

Verwaltungsaufwand reduzieren, aber zu welchem Preis?

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Ein weiteres Argument lautet, dass mit der neuen Hürde der administrative Aufwand gesenkt werden könne. Doch auch hier lohnt sich ein differenzierter Blick. Bürokratiekosten entstehen nicht allein durch Kurzansprüche, sondern durch die Vielzahl an Sonderfällen und Koordinationsaufgaben in einem komplexen System. Eine neue Regelung mit Übergangsbestimmungen, Rückforderungen oder Härtefallklauseln könnte den Verwaltungsapparat sogar belasten, statt ihn zu entlasten. Der Effekt wäre zumindest fraglich.

Hinzu kommt: Viele Prozesse in der Sozialversicherung sind heute bereits digitalisiert und standardisiert. Der Aufwand, kleine Renten zu berechnen, ist kaum höher als bei grossen. In der Praxis könnten neue Ausschlussregeln sogar zu mehr Rechtsstreit führen. Auch aus ethischer Sicht ist fraglich, ob ‘Verwaltungsvereinfachung’ ein legitimer Grund ist, um vulnerable Gruppen von Leistungen auszuschliessen. Effizienz ist wichtig, aber sicher nicht um jeden Preis.

Was bedeutet das für Arbeitgeber und HR-Verantwortliche?

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Aus Sicht von Personalverantwortlichen ist diese Debatte nicht ohne Relevanz. Die Schweiz ist in vielen Branchen auf temporäre ausländische Arbeitskräfte angewiesen, sei es in der Gastronomie, im Bau oder im Gesundheitswesen. Wenn der soziale Schutz dieser Personen eingeschränkt wird, könnte das die Attraktivität des Schweizer Arbeitsmarkts für mobile Fachkräfte mindern. Arbeitgebende, die auf internationale Talente setzen, könnten so vor neuen Herausforderungen stehen, sowohl in der Rekrutierung als auch im Employer Branding. Zudem stellt sich eine ethische Frage: Wie glaubwürdig sind unsere Werte von Fairness und Inklusion, wenn wir Menschen, die hier arbeiten und zum Wohlstand beitragen, vom sozialen Schutz ausklammern?

Moderne HR-Strategien basieren zunehmend auf Diversität und Mobilität. Es bleibt dem Schweizer Arbeitsmarkt gar nichts anderes übrig. Reformen wie diese könnten diesen Grundsatz torpedieren. Temporäre Einsätze dürfen nicht zu temporärer Anerkennung führen. Wer will, dass die Schweiz im globalen Wettbewerb attraktiv bleibt, muss auch für faire und nachvollziehbare Sozialstandards sorgen. Die Sozialpolitik ist kein Nebenschauplatz, sie ist Teil der nationalen Arbeitgebermarke, die eine starke Strahlkraft aussendet. Wird sie beschädigt, schadet dies langfristig allen.

Symbolpolitik mit sozialer Sprengkraft

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Die Diskussion um die Beitragsdauer ist Teil eines grösseren Trends: der politischen Verschiebung hin zu restriktiveren Sozialpolitiken. In Zeiten steigender Kosten werden Forderungen nach ‘mehr Eigenverantwortung’ und ‘klareren Spielregeln’ lauter. Doch oft bleibt dabei unklar, ob es tatsächlich um Effizienzsteigerung geht oder um eine sozialpolitische Signalwirkung, die mit den Grundwerten des Sozialstaats kollidieren könnte. Reformvorschläge wie dieser senden ein deutliches Signal: Nur wer lange bleibt, gehört dazu. Für ein Land mit hoher Arbeitsmobilität ist das eine gefährliche wie auch dumme Botschaft.

Die Sprache der Politik entscheidet über das Klima im Sozialstaat. Begriffe wie ‘Missbrauch’, ‘Schmarotzertum’ oder ‘Systemgerechtigkeit’ sind nie neutral und besitzen einen pejorativen Charakter. Sie schaffen Bilder und Kopfkino. Wer Reformen auf diese Weise einführt, betreibt gesellschaftliche Spaltung. Es braucht eine Rückbesinnung auf konstruktive, integrative Sprache. Denn Sozialpolitik ist nicht nur ein Kostenfaktor, sondern Ausdruck des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Sozialstaat mit Zukunft, aber wie?

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Der Handlungsbedarf in der Altersvorsorge ist unbestritten. Doch Reformen müssen sich an der Realität orientieren und nicht an moralischen Kurzschlüssen oder populistischen Forderungen. Die Herausforderung besteht darin, das Gleichgewicht zwischen Beitragsgerechtigkeit, sozialer Inklusion und langfristiger Finanzierbarkeit zu wahren. Wer dieses Gleichgewicht zugunsten kurzfristiger Effekte oder ideologischer Ausrichtung verschiebt, riskiert den sozialen Frieden und schwächt die Legitimation des gesamten Systems. Sozialpolitik darf nicht dem beliebigen Zeitgeist geopfert werden, sondern muss auf Prinzipien beruhen, die auch in Krisenzeiten tragen.

Gerade die Schweiz, die auf gesellschaftlichen Konsens und Stabilität setzt, braucht einen inklusiven Zugang zu sozialen Rechten. Dazu gehört die Anerkennung von geleisteter Arbeit,  unabhängig von Dauer oder Herkunft. Die AHV ist kein exklusives Privileg, sondern ein solidarisch getragenes Versprechen. Wer hier an den Grundfesten rüttelt, öffnet die Tür zu einem fragmentierten Sozialwesen. Eine zukunftsfähige Politik denkt in Jahrzehnten, nicht in Legislaturperioden.