Alle sollen länger arbeiten, aber keiner will die ‘Alten’ einstellen.
Wir schreiben das Jahr 2025. Die Babyboomer-Generation steht kurz vor dem Renteneintritt, und gleichzeitig brüllen Wirtschaft, Politik und Medien scheinheilig im Chor: ‘Wir haben zu wenig Fachkräfte!’
Die öffentlichen Diskussionen sind durchzogen von hektischer Betriebsamkeit, Reformvorschlägen und Appellen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Arbeiten bis 67, 70 oder noch darüber hinaus sei das neue Ideal. Die Rente wird zum Mythos, die Erwerbsarbeit zur Pflicht. Und warum auch nicht? Menschen leben länger, bleiben gesünder, sind mental und physisch aktiv. Doch die Realität ist ein Hohn.
Denn wer die magische 50 hinter sich gelassen hat, merkt schnell: Er oder sie ist auf dem Arbeitsmarkt plötzlich nur noch zweite Wahl. Oder dritte. Oder gar keine. Bewerbungen verschwinden im digitalen Orkus. Vorstellungsgespräche? Fehlanzeige. Stattdessen: Schweigen. Und das in einer Zeit, in der der Fachkräftemangel zum politischen Dauerbrenner geworden ist. Der Widerspruch könnte nicht offensichtlicher sein.
Eine Gesellschaft, die Menschen für die Arbeit bis ins hohe Alter verpflichten will, weigert sich gleichzeitig, diesen Menschen einen Platz in der Arbeitswelt zu geben. Wer das nicht als Zynismus erkennt, hat den Begriff nicht verstanden.
Der Fachkräftemangel ist real – aber auch selbstgemacht
Die Klage ist überall zu hören: zu wenig Personal, zu wenig Talente, zu wenig Kapazitäten. Und doch liegt der grösste Teil der Lösung brach, einfach weil man ihn nicht sehen will. Oder nicht sehen will darf. Statt auf den Arbeitsmarkt zu schauen wie ein Gärtner auf seine Pflanzen, schauen viele Personalverantwortliche lieber wie Jäger durch ein Zielfernrohr: Nur jung, billig und dynamisch darf es sein. Alles andere wird ausgeblendet.
Dabei wären Menschen über 50 genau das, was viele Firmen brauchen: stabilisierende, ruhige Kräfte mit Erfahrung, Disziplin und einem anderen Blick auf die Dinge. Stattdessen geht man auf dem Altar der Effizienz die grösste Verschwendung unserer Zeit ein: die systematische Ausgrenzung der erfahrungsreichsten Generation im Berufsleben. Es ist ein aktiver Verzicht auf Kompetenz, der uns teuer zu stehen kommt. Nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch menschlich.
Altersdiskriminierung: Salonfähig wie eh und je – einfach besser verpackt
Wir schreiben auf unsere Webseiten ‘Diversität ist uns wichtig’. Wir geben uns bunt, offen, tolerant. Wir feiern Pride-Monate, Gender-Pay-Day und Diversity-Events mit veganem Apéro. Aber beim Thema Alter kippt die Offenheit in eine betretene Stille. Dann herrscht Unsicherheit, Ausreden, Totschweigen. Altersdiskriminierung? ‘Ach, das ist doch kein Problem bei uns!’ – sagen viele. Und vergessen dabei: Diskriminierung zeigt sich nicht durch Aussagen. Sondern durch Verhalten.
- Wenn 58-jährige Fachleute mit jahrzehntelanger Berufserfahrung nicht einmal mehr zu Gesprächen eingeladen werden, dann ist das keine Ausnahme, sondern strukturelle Ausgrenzung.
- Wenn Bewerbungen abgelehnt werden, weil jemand ‘nicht mehr formbar’ sei, dann ist das ein Codewort für Altersvorurteil. Wenn man intern schon bei 45 beginnt, von ‘Karrierenachfolge’ zu sprechen, dann ist das Altersdiskriminierung mit Ansage.
Wir haben diese Diskriminierung so gut kaschiert, dass wir sie selbst nicht mehr erkennen. Und genau das macht sie so brandgefährlich.
Die dümmsten Vorurteile: teuer, langsam, nicht digital
‘Zu teuer’ ist die bequemste Ausrede für Entscheidungsschwäche. Wer ernsthaft glaubt, man spare langfristig Geld mit billigen, unerfahrenen Arbeitskräften, hat die Kosten von Fehlern, Fluktuation und ineffizientem Arbeiten nie ehrlich bilanziert. Ältere Mitarbeitende bringen nicht nur Fachwissen, sondern auch Prozessverständnis, Vernetzung, strategisches Denken und oft eine entscheidende Ruhe in hektischen Zeiten.
‘Nicht digital’ ist ein Vorwurf, der in seiner imperativen Pauschalität schon an Altersrassismus grenzt. Digital-Kompetenz hat nichts mit dem Geburtsjahr zu tun, sondern mit Zugang, Neugier und Bereitschaft. Wer über 50 ist und sein Leben lang Neues gelernt hat, kann sich auch Microsoft Teams und KI-Tools aneignen. Vielleicht sogar mit mehr Weitblick als ein digital sozialisierter Millennial mit Aufmerksamkeitsdefizit.
‘Langsam’ schliesslich – das ist keine objektive Bewertung, sondern ein kulturelles Urteil. Denn was heisst denn schnell? Dumpf reagieren ohne nachzudenken? Lieber ein reflektierter Entscheid in 15 Minuten als ein dummer Reflex in 15 Sekunden. Wir haben Schnelligkeit zur Religion gemacht und vergessen, dass Substanz nicht im Sprint entsteht.
Die unheilige Allianz von Feigheit und Vorurteil
Personalentscheide sind oft keine mutigen Schritte, sondern Angstreaktionen. Man will auf keinen Fall Fehler machen. Man will keinen Konflikt riskieren und Unruhe ins Unternehmen bringen. Man will keinen Aufruhr in der dynamischen Abteilung XY. Und deshalb entscheidet man sich lieber für den Konsens-Kandidaten oder die Bewerberin mit ‘jungem Potenzial’. Sogenannte High-Performer, die hektisch agieren und selten mal was wirklich auf die Reihe bekommen. Das ist bequem, das ist konfliktarm – und das ist feige.
Wer sich traut, Diversität ernst zu nehmen, muss auch unbequeme Gespräche führen, muss mit Teamleitenden die Frage stellen: Warum glauben wir, dass diese Person nicht passt? Was ist das eigentliche Kriterium? Und sind wir bereit, unsere Komfortzone zu verlassen? Leider lautet die Antwort zu oft: Nein.
Altersdiversität ist keine Sozialromantik
Wenn Unternehmen über Zukunft reden, denken sie an Technologie, Disruption, Innovation. Aber sie vergessen, dass all diese Begriffe nichts bringen, wenn die Umsetzung an zwischenmenschlicher Reife scheitert. Und genau hier liegt die unsichtbare Kraft der älteren Generation: Sie kann vermitteln, moderieren, Perspektiven verknüpfen, Verantwortung übernehmen. Sie ist der Faktor X, der in keinem CV auftaucht, aber in jedem Projekt den Unterschied macht.
Hört auf zu jammern, fangt an zu handeln
Der Fachkräftemangel ist zu grossen Teilen ein selbstverschuldetes Drama. Und das Drehbuch schreiben wir täglich neu, durch jede nicht beantwortete Bewerbung eines 59-jährigen Elektrotechnikers, durch jede abgelehnte Wiedereinsteigerin mit 30 Jahren Praxiserfahrung, durch jedes klischeehafte Jobinserat mit dem Satz ‘junges, dynamisches Team’.
Es ist Zeit für Ehrlichkeit. Zeit, eigene Vorurteile zu hinterfragen. Zeit, die kompromisslose Diversity-Strategie endlich auf das zu erweitern, was wirklich weh tut: das eigene Bild vom ‘idealen Bewerber’. Und wer jetzt noch glaubt, dass es reicht, einfach ein paar seelenlose Workshops zum Thema Alter zu veranstalten, hat das Problem nicht verstanden. Altersinklusion beginnt im Kopf. Und sie endet bei einem unterschriebenen Arbeitsvertrag – auch für Menschen über 60.
Und jetzt Sie: Wie viel Mut braucht es, um echten Wandel zuzulassen? Wann beginnen Sie, nicht über, sondern mit den älteren Generationen zu reden? Und was hindert Sie wirklich daran, eine Bewerbung ernsthaft zu prüfen, die Ihrem Unternehmen guttut?