Nov. 14

Die versteckte Ausbeutung: Temporärfirmen als Liquiditätslieferanten der Firmen.

Author: PersonalRadar

Die Schweizer Arbeitswelt präsentiert sich gern als fein austariertes System, in dem Verlässlichkeit, Klarheit und gegenseitige Verantwortung handfeste Realität sind.

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Man verweist auf Sozialpartnerschaft, gesetzliche Präzision und die berühmte helvetische Arbeitsmoral und vergisst dabei, dass ein grosser Teil dieser Stabilität nicht von jenen erzeugt wird, die laut auftreten, sondern von Akteuren, die kaum sichtbar sind. Zu ihnen gehören die Temporärfirmen, die Tag für Tag jene strukturellen Lücken füllen, ohne die die Arbeitswelt weit weniger geordnet wäre, als man glauben möchte.

Ihre Rolle ist unscheinbar, aber unverzichtbar. Sie liefern Personal, wenn spontane Engpässe auftreten. Sie dämpfen Schwankungen, die in jedem anderen System zu schwerfälligen Reaktionen führen würden. Und sie finanzieren die Arbeitskraft vor, nicht selten über Wochen, während viele Unternehmen zuerst ihre eigenen Prioritäten sichern. Die Temporärbranche stellt damit nicht nur Arbeitskräfte zur Verfügung; sie liefert Stabilität, Liquidität und Verantwortung in einem System, das diese Qualitäten immer stärker beansprucht, aber kaum hinterfragt, wer sie bezahlt.

Die Ironie ist offensichtlich: Je reibungsloser die Temporärarbeit funktioniert, desto weniger wird sichtbar, wie fragil ihre Position ist:

  • Sie trägt die Risiken anderer, ohne politisch geschützt zu sein
  • Sie sichert die Löhne, ohne sicher zu sein, dass sie selbst bezahlt wird
  • Und sie organisiert Menschen, deren Einsatzbetriebe zwar profitieren, aber kaum Verantwortung übernehmen müssen

Diese Diskrepanz ist kein Nebengeräusch der modernen Arbeitswelt, sondern ihr strukturelles Fundament, ein Fundament, das mittlerweile zu bröckeln beginnt.

Die rechtliche Realität: Pflicht ohne Gegenseitigkeit

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Das schweizerische Arbeitsrecht lässt keinen Interpretationsraum: Die Temporärfirma ist Arbeitgeberin, und damit verpflichtet sie das Gesetz zu einer absolut zuverlässigen Lohnzahlung. Diese Pflicht ist sozialpolitisch richtig, doch sie steht in einem merkwürdigen Kontrast zu jener Freiheit, die Einsatzbetriebe geniessen.

Während die Temporärfirma sämtliche arbeitsrechtlichen Verpflichtungen erfüllen muss, kann der Kunde Rechnungen verzögern, prüfen lassen, zurückhalten oder schlicht ignorieren. Das Recht schützt den Arbeitnehmenden, nicht aber jene Instanz, die seine Arbeit vorfinanziert.

Diese rechtliche Asymmetrie wäre weniger gravierend, wenn die Temporärfirma gleichzeitig Einfluss auf die finanzielle Solidität ihrer Kunden hätte. Doch sie hat ihn nicht. Sie ist verpflichtet, zu zahlen, ohne durchsetzungsstarke Instrumente zu besitzen, um ihr eigenes Risiko abzusichern. Was als Schutzmechanismus für Arbeitnehmende begonnen hat, ist zu einem System geworden, in dem die Last einseitig dortbleibt, wo die Entscheidungsmacht am geringsten ist.

Die wirtschaftliche Logik: Vorfinanzierung als Grundvoraussetzung

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Temporärfirmen übernehmen in der Schweizer Wirtschaft eine Rolle, die man, nüchtern betrachtet, als Vorfinanzierungsdienst bezeichnen muss. Sie bezahlen Löhne, Sozialversicherungen, Unfall- und Pensionskassenbeiträge oft lange, bevor der Einsatzbetrieb auch nur eine Rechnung beglichen hat. Währenddessen nutzen Betriebe die Liquidität der Temporärfirmen, um ihre eigenen Engpässe zu überbrücken.

Die Verzögerung von Zahlungen ist selten purer Zufall. Sie ist Bestandteil einer still akzeptierten Liquiditätsstrategie, die in der Praxis weder kommuniziert noch reguliert wird. Die Temporärfirma wird dadurch zur stillen Bank eines Systems, das ihren Einsatz zwar begrüsst, aber ihre Risiken nicht mitträgt. Sie finanziert die Arbeit, ohne die Sicherheit zu besitzen, den Gegenwert zu erhalten. Sie trägt das Ausfallrisiko, obwohl sie weder über die Projektführung noch über die Zahlungsflüsse bestimmen kann.

Diese wirtschaftliche Logik wäre vielleicht tragbar, wenn das Risiko gleichmässiger verteilt wäre. Doch im aktuellen System ist es ausschliesslich die Temporärfirma, die die Konsequenzen trägt, wenn ein Unternehmen Zahlungsschwierigkeiten hat oder bewusst intransparente Praktiken nutzt.

Die politische Unsichtbarkeit: Ein Sektor, der überall gebraucht wird, aber nirgends geschützt ist

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Politisch befindet sich die Temporärbranche in einem eigentümlichen Zwischenraum. Sie ist zu relevant, um ignoriert zu werden, aber zu schwer zu verorten, um als Interessenblock wahrgenommen zu werden. Weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände vertreten sie in jener Form, wie es ihrer tatsächlichen Relevanz entsprechen würde. Sie ist keine klassische Branche, sondern eine Querschnittsfunktion und damit politisch unhandlich.

In der politischen Debatte taucht sie meist nur indirekt auf: als Randphänomen bei Diskussionen über Lohnschutz, Migration, Subunternehmen oder Digitalisierung. Doch ihre Risiken werden kaum je thematisiert. Es gibt keine parlamentarische Diskussion darüber, wie man ein System schützen kann, das Tag für Tag Löhne bezahlt, ohne selbst geschützt zu sein. Es existiert kein ernsthafter politischer Anlauf, Subunternehmerketten transparenter zu machen oder mehrfache Konkurskarrieren einzuschränken.

Das Schweigen ist kein Zufall, sondern Resultat eines Systems, das sich an stabile Mechanismen gewöhnt hat und deshalb blind wird für jene, die diese Stabilität überhaupt erst ermöglichen.

Fallbeispiele aus der Praxis: Die Normalität des Unspektakulären

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Die konkreten Fälle, die Temporärfirmen erleben, erscheinen selten in Zeitungen. Gerade deshalb sind sie so bezeichnend:

  1. In einem mittelgrossen Bauunternehmen etwa wurden Akontozahlungen regelmässig zweckentfremdet, während die Temporärfirma über Wochen hinweg Löhne und Versicherungen vorfinanzierte. Als der Konkurs eröffnet wurde, fehlten sämtliche Mittel. Die Temporärfirma blieb auf den Rechnungen sitzen, der Unternehmer tauchte wenig später unter neuer Firma wieder auf.
  2. In der Logistik zeigte sich ein ähnliches Muster. Eine Transportfirma verzögerte systematisch sämtliche Zahlungen, während die Temporärfirma Chauffeure schulte, Lohnläufe auszahlte und Einsatzpläne organisierte. Die Ausreden waren zahlreich und kreativ. Erst viel später wurde klar, dass der Betreiber längst zahlungsunfähig war und seine Geschäftstätigkeit ohne Ankündigung eingestellt hatte.

Diese Beispiele sind nicht spektakulär. Sie sind der Alltag einer Branche, die Risiken trägt, die andere verursachen und die dennoch so zuverlässig funktioniert, dass man sie gerne übersieht.

Reformvorschläge aus HR-Perspektive: Realistisch, machbar, notwendig

Aus Sicht des HR wäre eine behutsame, aber klare Weiterentwicklung des Systems weit mehr als eine wünschenswerte Verbesserung. Sie wäre ein notwendiger Schritt, um die Stabilität jener Branche zu sichern, die selbst so viel Stabilität liefert.

Eine moderate Transparenzpflicht für Unternehmen, die systematisch Temporärpersonal beschäftigen, könnte Risiken früh sichtbar machen. Eine begrenzte Mitverantwortung grosser Generalunternehmer würde jene einbeziehen, die wirtschaftlich am meisten profitieren. Und eine zeitlich definierte Sperrfrist für Unternehmer, die wiederholt Konkurs verursachen, würde zumindest den systematischen Missbrauch erschweren.

Diese Massnahmen greifen nicht in die unternehmerische Freiheit ein, aber sie schaffen ein Mindestmass an Schutz für jene, die heute die Verantwortung tragen, ohne geschützt zu sein.

Ein System trägt sich nicht von selbst

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Temporärfirmen sind weit mehr als flexible Personalstützen: Sie sind die stillen Lastenträger eines Arbeitsmarktes, der sich auf ihre Belastbarkeit verlässt. Sie finanzieren, organisieren, stabilisieren und sichern Abläufe, die anderen Branchen als selbstverständlich erscheinen. Doch selbstverständlich ist hier gar nichts. Hinter jeder pünktlichen Schicht steht eine Firma, die diese Schicht bezahlt hat, bevor sie wusste, ob sie dafür bezahlt werden wird.

Für HR bedeutet das, Verantwortung neu zu denken. Temporärarbeit ist kein bequemes Zusatzinstrument, sondern ein fundamentaler Teil der Arbeitsmarktarchitektur. Wer mit Temporärfirmen arbeitet, arbeitet mit Partnern, die – trotz minimalem Schutz – maximale Verantwortung übernehmen.

Die Schweiz ist stolz auf ihre Stabilität. Doch diese Stabilität entsteht nicht durch politische Parolen oder gesetzliche Schönwetterformeln, sondern durch die Arbeit jener, die die Risiken tragen, damit andere ungestört arbeiten können. Die Temporärbranche verdient deshalb nicht nur Respekt, sondern gerechte Bedingungen.

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