Arbeitsrecht: Wenn Erfahrung plötzlich zum Risiko wird.
Kündigungen sind immer gravierende Einschnitte, doch bei älteren Mitarbeitenden entfalten sie eine besonders starke Wirkung. Sie treffen Personen, deren berufliche Perspektiven naturgemäss enger geworden sind, deren Identität oft eng mit der langjährigen Tätigkeit verbunden ist und die kurz vor einem Lebensabschnitt stehen, der von Stabilität und Planbarkeit geprägt sein sollte.
Für HR-Verantwortliche bedeutet das: Eine Kündigung im Vorfeld der Pensionierung ist kein gewöhnlicher Vorgang. Sie berührt nicht nur arbeitsrechtliche Fragen, sondern verstärkt die öffentliche Erwartung, dass Unternehmen verantwortungsvoll und sozial sensibel handeln.
Obwohl das Arbeitsrecht keinen expliziten Sonderkündigungsschutz kennt, hat die Rechtsprechung über die Jahre klare Signale gesetzt. Diese Signale müssen verstanden und in der Praxis berücksichtigt werden, um rechtliche Risiken zu reduzieren und die Glaubwürdigkeit der eigenen Personalpolitik zu stärken.
Was eine Kündigung kurz vor der Pensionierung so heikel macht
Für ältere Mitarbeitende ist der Verlust des Arbeitsplatzes besonders einschneidend. Das liegt nicht nur an den realistisch begrenzten Möglichkeiten, eine neue Stelle zu finden, sondern auch am hohen Identifikationsgrad mit der bisherigen Tätigkeit. Gleichzeitig sind die finanziellen und sozialen Folgen stärker spürbar als bei jüngeren Personen.
Unternehmen stehen deshalb in einer doppelten Verantwortung: Sie müssen ihre Entscheidungsfreiheit wahren, aber auch sicherstellen, dass das Vorgehen fair, nachvollziehbar und gut dokumentiert ist. Dies ist nicht nur im Interesse der betroffenen Person, sondern auch im Interesse der Arbeitgeberin, denn eine schlecht begründete Alterskündigung birgt erhebliche Risiken für das Arbeitgeberimage und für die Rechtsposition im Streitfall.
Wie der besondere Schutz entstanden ist
Der erhöhte Schutz älterer Mitarbeitender ist keine gesetzliche Konstruktion, sondern ein Produkt der Rechtsprechung. Der zentrale Wendepunkt war der Entscheid BGE 132 III 115 aus dem Jahr 2005. Ein Heizungsmonteur mit 44 Dienstjahren wurde 14 Monate vor seiner Pensionierung entlassen. Das Bundesgericht sprach von einem ‘krassen Missverhältnis der Interessen’ und qualifizierte die Kündigung als missbräuchlich. Es sprach dem Mann die maximale Entschädigung von sechs Monatslöhnen zu.
Dieser Entscheid prägte die weitere Entwicklung. Seither prüfen Gerichte Kündigungen in der Nähe des Rentenalters genauer. Sie erwarten, dass Arbeitgeberinnen besondere Sorgfalt walten lassen, nachvollziehbare Gründe darlegen und Alternativen prüfen. Diese Anforderungen sind zwar nicht gesetzlich normiert, wirken aber als faktische Standards in der Praxis.
Die drei Faktoren, die Gerichte am häufigsten berücksichtigen
In Streitfällen hat sich ein Dreiklang etabliert, anhand dessen Gerichte die Missbräuchlichkeit einer altersnahen Kündigung prüfen:
- Lebensalter: Je näher an der Pensionierung, desto schwerer wiegen die Gründe für eine Weiterbeschäftigung.
- Dauer der Anstellung: Langjährige Mitarbeitende haben Anspruch auf einen besonders sorgfältigen Umgang.
- Restzeit bis zur Pensionierung: Wenige Monate oder ein bis zwei Jahre vor Rentenbeginn erhöhen die Schutzwirkung deutlich.
Wichtig ist: Es gibt keine fixen Grenzwerte. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass ein Schutz unter etwa fünfzig Jahren und bei weniger als zwanzig Dienstjahren selten greift. Der Schutzmechanismus entsteht erst aus dem Zusammenspiel aller Umstände.
Wie Mitarbeitende gegen eine Kündigung vorgehen können
Für die Personalabteilung oder Unternehmensleitung ist zentral zu wissen, welche Schritte Betroffene in einem Streitfall einleiten können und vor allem, welche Fristen dabei relevant sind.
- Einsprache während der Kündigungsfrist: Betroffene müssen schriftlich und eingeschrieben Einsprache erheben. Die Formulierung ‘Ich erhebe Einsprache’ muss zwingend enthalten sein. Eine blosse Kritik an der Begründung reicht nicht.
- Klagefrist von 180 Tagen: Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses müssen Betroffene innerhalb von 180 Tagen Klage einreichen. Wird diese Frist verpasst, sind die Ansprüche verwirkt.
- Mögliche Rechtsfolge: Selbst bei erfolgreicher Klage bleibt die Kündigung wirksam. Das Gericht kann lediglich eine Entschädigung von maximal sechs Monatslöhnen zusprechen, in der Praxis häufig zwei bis drei.
Für Arbeitgeberinnen bedeutet dies: Ein sauberer Prozess, klare Dokumente und eine frühzeitige Kommunikation sind entscheidend.
Was Arbeitgebende beachten sollten
Auch wenn das Gesetz keine besonderen Pflichten vorsieht, haben Gerichte über die Jahre Erwartungen formuliert, die sich in der HR-Praxis bewährt haben:
- angemessen früh kommunizieren
- betroffene Person anhören und deren Sicht aufnehmen
- Alternativen prüfen (Umplatzierung, angepasste Aufgabe, Reduktion des Pensums)
- Bewährungsfristen ermöglichen, sofern Leistungsthemen relevant sind
Diese Massnahmen sind nicht zwingend, wirken aber deeskalierend und können im Streitfall zeigen, dass Arbeitgebende ihren Pflichten nach Treu und Glauben nachgekommen sind.
Warum die aktuelle Rechtslage unbefriedigend bleibt
Die Schutzwirkung für ältere Mitarbeitende ist das Ergebnis von Einzelfallrechtsprechung. Das schafft Unsicherheiten, da ähnliche Fälle unterschiedlich entschieden werden können. Zudem profitieren andere schutzbedürftige Gruppen, etwa Alleinerziehende oder Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, nicht vom gleichen Schutzmechanismus. Eine gesetzliche Regelung könnte hier Klarheit schaffen, wäre aber politisch umstritten. Solange es keine solche Regelung gibt, müssen HR-Verantwortliche die Leitlinien der Rechtsprechung kennen und in der Praxis umsichtig anwenden.
Die wichtigsten Bundesgerichtsentscheide: Kompakt und sofort erfassbar
Die nachfolgend vier Urteile bilden den Kern der heutigen Praxis. Sie zeigen, wie das Bundesgericht Alterskündigungen beurteilt und welche Leitlinien sich daraus für die HR-Praxis ableiten lassen.
- *BGE 132 III 115 (2005): Entlassung eines 63-jährigen Heizungsmonteurs 14 Monate vor der Pensionierung. 44 Dienstjahre. Gericht stellt Missbrauch fest und spricht maximale Entschädigung zu. Grundlage der heutigen Schutzpraxis.
- *4A_384/2014: 59-jähriger Mitarbeitender mit sehr langer Dienstzeit. Gericht fordert erhöhte Rücksichtnahme: Anhörung, Alternativen prüfen, sorgfältiger Prozess.
- *4A_44/2021: 60-jähriger CEO mit 37 Dienstjahren. Trotz fehlender Anhörung und fehlender Alternativen keine Missbräuchlichkeit. Gericht betont freie Kündbarkeit und relativiert die strenge Praxis von 2014.
- *4A_117/2023: 64-jähriger Koch, 30 Dienstjahre, Kündigung 11 Monate vor Pensionierung. Keine automatische Missbräuchlichkeit. Die Gesamtwürdigung zählt, nicht allein das Alter.
Kurz gesagt: Alter ist ein Signal, aber kein Schutzschild. Sorgfalt zählt mehr als Formalismen.
Fairness ist nicht nur Rechtspflicht, sondern Kulturfrage
Die Kündigung älterer Mitarbeitenden ist mehr als ein arbeitsrechtlicher Vorgang. Sie ist ein Test für Kultur, Haltung und Glaubwürdigkeit eines Unternehmens. Während das Gesetz nur grobe Leitplanken setzt, schaffen die Gerichte Orientierung, die aber nur greift, wenn die Personalabteilung oder die Unternehmensleitung verantwortungsvoll handelt. Ein professioneller, gut dokumentierter und transparent geführter Prozess schützt nicht nur vor Rechtsrisiken, sondern auch die Reputation und das Vertrauen im Unternehmen. Die Behandlung jener Mitarbeitenden, die ihre berufliche Lebenszeit massgeblich für das Unternehmen eingesetzt haben, ist Ausdruck einer Wertehaltung, die weit über die juristische Ebene hinausgeht.
Unternehmen, die diesen Grundsatz ernst nehmen, zeigen nicht nur soziale Verantwortung, sondern stärken langfristig auch ihre Attraktivität als Arbeitgebende.
*Quellen und Urteile:
Arbeitsrecht: Krankheit schützt nicht mehr in jedem Fall vor Kündigung.
5 Tipps: Arbeitgeberkündigungen fachlich korrekt und auf Augenhöhe aussprechen.









