Viele halten Härte für Kompetenz.
Führung wird in Leitbildern gern als Kunst der Inspiration beschrieben, als Mischung aus Klarheit, Empathie und strategischem Denken.
Wer aber ein paar Jahre in Schweizer Unternehmen, Verwaltungen oder Spitälern unterwegs ist, merkt schnell: In der Praxis entscheidet etwas anderes darüber, welche Führung als ‘gut’ gilt. Nicht in erster Linie das Verhalten der Führungsperson, sondern die innere Landkarte jener, die dieses Verhalten beobachten.
Genau das zeigt eine interessante Studie von Christine Q. Nguyen und Daniel R. Ames von der Columbia Business School (Columbia University, USA) in bemerkenswerter Klarheit: Antagonistische, also harte, ruppige oder einschüchternde Führung wird nicht danach beurteilt, ob sie objektiv wirksam ist, sondern danach, welches Weltbild die Beobachtenden von der sozialen Welt haben.
Die Welt als Konkurrenzarena
Im Zentrum der Studie steht die sogenannte ‘Competitive Worldview’, vereinfacht gesagt: das Weltbild vom Leben als Konkurrenzkampf. Menschen mit einer stark kompetitiven Weltsicht gehen davon aus, dass die Welt ein Nullsummenspiel ist: Entweder ich setze mich durch, oder jemand anders tut es. Wer kooperativ denkt, sieht die soziale Welt eher als Netzwerk: Man kommt voran, indem man Beziehungen pflegt, Allianzen baut und Spannungen bearbeitet, statt sie eskalieren zu lassen.
In mehreren Experimenten zeigt die Studie:
Menschen mit stark kompetitiver Weltsicht bewerten harte, ruppige, einschüchternde Führung systematisch positiver. Sie halten solche Vorgesetzte eher für kompetent, durchsetzungsstark und ‘leaderhaft’, selbst dann, wenn keinerlei Hinweise darauf vorliegen, dass dieser Stil tatsächlich zu besseren Ergebnissen führt. Umgekehrt wird kooperative, freundliche Führung von genau diesen Personen häufig als weich, naiv oder wenig wirksam wahrgenommen.
Kurz gesagt: Nicht das Verhalten entscheidet über das Urteil, sondern die innere Theorie, wie die Welt angeblich funktioniert.
Gleiche Führung, völlig andere Deutung
Damit das nicht abstrakt bleibt, lohnt sich ein Blick in typische Schweizer Situationen, fiktiv, aber durchaus realistisch.
- Man stelle sich ein Sitzungszimmer in einem Bundesamt in Bern vor: Der Projektleiter beginnt die Besprechung mit einem Satz, der mehr Anklage als Analyse ist: ‘Die letzten Wochen waren ein Desaster. So können wir nicht weiterarbeiten.’ Ein Teil der Runde denkt: Hier schiebt jemand Verantwortung nach unten, statt Ursachen zu klären und Rahmenbedingungen zu thematisieren. Ein anderer Teil denkt: Endlich jemand, der es klar ausspricht und Druck aufbaut. Dass der Satz inhaltlich dünn ist, spielt in diesem Moment kaum eine Rolle. Entscheidend ist, ob die Beteiligten den Arbeitsort als kollektiven Gestaltungsraum oder als Ort permanenter Positionskämpfe wahrnehmen.
- Ähnliches finden wir in Spitälern: Eine Stationsleitung, unter Dauerstress und Personalmangel, adressiert das Team im Tonfall eines Feldwebels: man möge sich ‘zusammenreissen’, der aktuelle Zustand sei schliesslich ‘unhaltbar’. Jüngere Pflegende, mit einer Haltung von Teamarbeit und gemeinsamem Lernen sozialisiert, fühlen sich herabgesetzt. Andere, die das System seit Jahrzehnten eher als Überlebenskampf erleben, sehen in der Schärfe eine Art notwendige Disziplinierung.
- Oder ein Beispiel aus dem Detailhandel: Ein Filialleiter schreibt abends in den Gruppenchat via WhatsApp, Krankmeldungen würden ab sofort ‘nicht mehr einfach so akzeptiert’, man sei ‘am Limit des Zumutbaren’. Für einen Teil des Teams ist das ein Vertrauensbruch, ein Eingriff in die persönliche Integrität. Für andere ist es Führung, endlich, nach einer Phase gefühlter Regellosigkeit.
In all diesen Szenen wiederholt sich genau das, was die Studie abbildet: Wir sehen in Härte entweder eine Übertretung oder eine Qualifikation, je nachdem, welches Weltbild wir mitbringen.
Der Mythos ‘harte Chefs sind erfolgreicher’
Besonders heikel wird es, wenn es um erfolgreiche Führungskräfte geht. Nguyen und Ames konnten zeigen, dass Menschen mit kompetitiver Weltsicht dazu neigen, erfolgreichen Personen im Nachhinein Härte, Dominanz und Skrupellosigkeit zuzuschreiben, auch wenn diese Eigenschaften gar nicht belegt sind. Erfolg wird dann als Produkt ‘harten Durchgreifens’ interpretiert, nicht etwa als Ergebnis kluger Abwägung, klaren Denkens oder sozialer Kompetenz.
Daraus entsteht ein gefährlicher Zirkelschluss:
- Wer oben ist, muss hart gewesen sein
- Wer hart ist, wirkt deshalb kompetent
Weil dieses Narrativ so eingängig ist, setzt es sich in vielen Organisationen fast automatisch durch, selbst dann, wenn es empirisch kaum zu halten ist. In der Schweiz, wo man ungern offen Machtansprüche formuliert, aber im Stillen gern vom ‘starken Leader’ spricht, ist dieser Mythos besonders zäh. Er untergräbt eine modern verstandene Führung, gerade dort, wo Leitbilder bereits von Wertschätzung, Dialog und Kooperation sprechen.
Die kooperative Führung hat es nicht leicht
Für kooperative Führungskräfte ist diese Dynamik fatal. Führungspersonen, die bewusst auf Dialog, Einbindung und Wertschätzung setzen, haben es schwerer, als stark zu gelten. Ihr Stil erzeugt weniger Spektakel, weniger sichtbare Machtdemonstration, weniger ‘Show’. In Systemen, die unbewusst noch immer am Mythos des harten Leaders hängen, werden sie schnell in die ‘zu nett’-Ecke geschoben, obwohl ihre Teams oft stabiler, loyaler und langfristig leistungsfähiger sind.
Die Studie deutet genau darauf hin: Menschen mit kompetitiver Weltsicht lesen kooperative Führung eher als Defizit, denn als hochentwickelte Kompetenz.
Viele gut funktionierende Führungspersonen im Unternehmen sind unterbewertet, nicht weil sie schlechter führen, sondern weil sie nicht in das implizite Drehbuch von ‘richtiger’ Führung passen.
Antagonismus überlebt durch seine Fans
Die unangenehmste Konsequenz aus alledem ist vielleicht diese: Antagonistische Führung überlebt nicht nur wegen derjenigen, die sie praktizieren, sondern wegen derjenigen, die sie legitimieren. Die Studie zeigt, dass Mitarbeitende mit stark kompetitiver Weltsicht unter harten Chefs nicht zwingend unzufriedener sind. Im Gegenteil: Sie berichten teilweise von höherer Motivation und stärkerem Antrieb, gerade weil der Druck ihrem Weltbild entspricht. Ein ruppiger Umgangston wirkt dann nicht wie ein brutaler Übergriff, sondern wie ein Test der Widerstandsfähigkeit. Nicht wie Missachtung, sondern wie Herausforderung.
Genau diese Mitarbeitenden sind es, die in Feedbackrunden oder informellen Gesprächen sagen: ‘Klar ist die Chefin hart, aber sie ist fair und effektiv.’ Sie liefern dem System die narrative Rückendeckung, die es braucht, damit dieser Führungsstil bleibt. Ohne diese Gruppe wäre der ‘harte Chef’ ein klares Risiko, das viel kostet und Schaden anrichtet.
Was bedeutet das für die Personalabteilung?
Vor diesem Hintergrund verändert sich auch die Rolle der Personalabteilung. Es reicht nicht, nur das Verhalten von Führungskräften zu adressieren, durch Trainings, Coachings oder Leitbilder. Wenn die Deutungsrahmen der Mitarbeitenden unberührt bleiben, entsteht eine merkwürdige Schieflage: Offiziell predigt man moderne, kooperative Führung, inoffiziell werden immer noch jene am meisten bewundert, die ‘durchgreifen können’.
Genau hier beginnt Führungskultur zur Frage der Interpretationskultur zu werden. Statt nur zu fragen, wie eine Führungskraft agiert, müsste man ebenso fragen, warum bestimmte Verhaltensweisen im System als Kompetenz gelesen werden:
- Warum gilt Lautstärke häufig als Entschlossenheit, und warum wird leise Klarheit so oft übersehen?
- Warum werden Teams, die mit minimalem Drama funktionieren, in der Sichtbarkeit von Projekten häufig schlechter positioniert als jene, bei denen ständig jemand ‘Alarm’ macht?
Wer diese Fragen ernstnimmt, beginnt Führung anders zu betrachten: nicht nur als individuelle Fähigkeit, sondern als kollektives Bedeutungsgewebe. Für die Personalabteilung heisst das auch, konsequenter Geschichten zu sammeln, in denen kooperative Führung klar zu messbaren Verbesserungen führt, etwa geringere Fluktuation, weniger Konflikte, höhere interne Mobilität oder schnellere Integration neuer Mitarbeitender. Solche Gegenüberstellungen können helfen, das alte Muster ‘hart = stark, kooperativ = schwach’ zu irritieren.
Die eigentliche Reifeprüfung
Am Ende läuft alles auf eine einfache, aber weitreichende Einsicht hinaus: Die Zukunft der Führung hängt weniger davon ab, wie viele Führungskräfte wir in Seminare schicken, als davon, wie eine Organisation lernt, Führung zu lesen.
Wenn Härte unreflektiert als Kompetenz durchgeht, werden wir antagonistische Führungsstile immer wieder produzieren, selbst wenn wir sie offiziell längst hinter uns gelassen haben. Wenn Kooperation systematisch als Schwäche missverstanden wird, verlieren wir genau jene Profile, die wir für eine komplexe, vernetzte Arbeitswelt eigentlich dringend brauchen.
Die entscheidende Frage für jede Organisation, und besonders für die Personalabteilung, lautet deshalb nicht nur: Wie sollen unsere Führungskräfte führen? Sondern vor allem: Warum glauben wir, dass bestimmte Verhaltensweisen überhaupt Führung sind?
Die Studie ist wie folgt nachlesbar: In a competitive world, mean leaders look smart (in PDF Format auf Englisch, 30 Seiten)
In der Antwort auf diese Frage entscheidet sich, ob eine Führungskultur reift, oder ob sie weiter an Mythen festhält, die zwar spektakulär aussehen, aber langfristig sehr teuer sind.
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